Wo ist Sebulon, wo Naftali? Niemand weiß es. Es wird als Land der Finsternis charakterisiert. Heute könnte es Idlib sein oder ein anderer Fleck auf der Erde. Jesus kommt dorthin und es geht Licht auf. Wohin die Botschaft Jesu kommt, wird es licht. Am Ende sendet er seine Jünger aus, um dieses Licht in die ganze Welt zu bringen.
Ein Anfang und ein Schluss
Dass eine Geschichte einen guten Anfang braucht, wissen Sie? Es ist die Kunst des ersten Satzes! Er soll gleich von Anfang an neugierig machen und voller Spannung stecken. Ist das ein guter Einstieg? „Als Jesus hörte, dass Johannes ausgeliefert worden war, kehrte er nach Galiläa zurück. Er verließ Nazaret, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt, im Gebiet von Sebulon und Naftali.“ Eigentlich ist da alles drin: der Anlass, der Ortswechsel – und die etwas genauere Beschreibung, in welchem Raum sich die Geschichte abspielt, die jetzt erzählt werden soll. Aufregend? Fesselnd?
Sebulon und Naftali! So sehr sich Matthäus auch Mühe gibt: heute weiß kein Mensch, wo das ist.
Und dass zu einer Geschichte ein guter, passender Schluss gehört, haben wir auch schon in der Schule gelernt. Er soll den Sack zubinden! Ich höre meinen alten Lehrer. Auf das Ende käme es an, pflegte er zu sagen. Dann ist der letzte Punkt gelungen. Fast lakonisch hört es sich bei Matthäus an: „Von da an begann Jesus zu verkünden: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“
Ist das ein gelungener Einstieg, ein glückliches Ende? Jesus geht in das Gebiet von Sebulon und Naftali – um die Umkehr zu predigen? Was, in aller Welt, ist an diesem Gebiet so interessant oder wichtig, dass Jesus hier auftritt – und Matthäus das dann auch noch erzählt?
Land der Finsternis
Ob ich Ihnen empfehlen kann, den nächsten Urlaub in Sebulon und Naftali zu verbringen, weiß ich nicht. Gehen Sie einmal in ein Reisebüro! Eine Reise auf den Spuren Jesu vielleicht? Aber was uns der Evangelist erzählt, lässt sich so einfach nicht erkunden. Er erzählt von einer großen Finsternis, von Todesschatten. Die mögen Touristen nicht sehen, wenn sie für sauer verdientes Geld fremde Länder erkunden.
Matthäus erzählt die Geschichte übrigens mit so einfachen Strichen, dass wir nur mit Mühe einen Handlungsstrang erkennen können. Gibt es ihn überhaupt? Jesus geht nach Sebulon und Naftali, weil – sagen wir es einmal so – er vom Propheten Jesaja dahin geschickt wird. Der hat zwar lange Zeit vor ihm gelebt, aber seine Verheißung, seine Ankündigung, sein Programm ist noch nicht erfüllt! Jetzt tritt Jesus in seine Stapfen, geht seinen Weg noch einmal nach und lässt das Licht aufgehen! Jetzt wird die Freude groß. Aus Verlierern werden Sieger. Aus Verlorenen Gefundene. Aus Verlassenen Freunde.
Nicht so schnell! Das muss ist jetzt auch noch erzählen! Es ist nicht nur die große Geschichte, die das Gebiet von Sebulon und Naftali beutelt und ausnimmt, schlimmer noch ist, dass in den Augen der Menschen, die angeblich in besseren Gebieten leben, hier sowieso nur der Ausschuss wohnt. Leute, die nicht gebildet sind. Leute, die nicht einmal den richtigen Glauben haben. Leute, auf die man einfach herunterschauen darf. Klar doch – solche Geschichten lassen sich sogar vererben. Irgendwann weiß kein Mensch mehr, wie etwas angefangen hat, aber zu ändern gibt es auch nichts. NICHTS! Die Menschen da brauchen nicht mehr zu sterben – sie sind schon tot. Totgesagt.
Der Prophet Jesaja sieht das schon richtig: Ein Volk in Finsternis, Land im Todesschatten. Wer schuld daran ist? Wer Opfer ist von Verleumdung, Intrige und Vorurteil? Ursachenforschung betreiben weder Jesaja noch Jesus. Beide verzichten auch auf Schuldzuweisungen. Sie verkünden einen neuen Anfang! Sie machen Hoffnung! Sie nehmen dem Tod seine Schatten!
„Das Volk, das im Dunkel saß, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen.“
Licht
Können Sie verstehen, dass ich auf der Suche nach Hoffnungsgeschichten bin? Ich suche sie überall. Muss man sie nicht suchen, um sie überhaupt zu finden? Viele Menschen leben weltweit im Schatten des Todes. Er macht sich breit, setzt sich überall hin und macht sein Geschäft. Hoffnung verstummt, Glaube wird kleinlaut, Liebe geht einfach unter.
Was, wenn wir heute nicht von Sebulon und Naftali reden, sondern von Idlib? Einer Stadt in der gleichnamigen Provinz im Nordosten Syriens? Eine Gegend, die uns im Fernsehen auf den Leib rückt, immer wieder. Ein Kriegsgebiet. Ein Spielball der Weltmächte (und derer, die es sein möchten). Die Menschen leben in Ruinen, viele in Lagern. Flüchtlinge überall. Die Lage ist katastrophal. Sind das nicht die Todesschatten, die Jesaja gesehen, die Jesus wahrgenommen, die Matthäus erzählt hat? Dass Sebulon und Naftali ihre eigenen Geschichten haben, ahnen wir wohl, wissen sie aber nicht zu erzählen - doch die alten Geschichten leben immer wieder neu auf. Wie Vagabunden, die mal hier, mal dort sind. Die Finsternis hat viele Seiten, der Tod viele Schatten. Matthäus aber erzählt, ein wenig versponnen, dass Jesus nach Kafarnaum zurückgeht, um dort zu wohnen. Zu wohnen! In der Gegend von Sebulon und Naftali! In dieser finsteren Ecke will er wohnen! Hier ist er zu Hause! Und siehe: Jetzt geht ein Licht auf.
„Das Land Sebulon und das Land Naftali,
die Straße am Meer, das Gebiet jenseits des Jordan,
das heidnische Galiläa:
Das Volk, das im Dunkel saß,
hat ein helles Licht gesehen;
denen, die im Schattenreich des Todes wohnten,
ist ein Licht erschienen.“
Ist das eine Hoffnungsgeschichte? Ließe sie sich auch so erzählen?
Idlib, Stadt und Provinz in Syrien:
Das Volk, das im Dunkel sitzt,
sieht ein helles Licht,
denen, die die Schatten des Todes schon gesehen und gerochen haben,
erscheint ein Licht.
Umkehr
Unversehens kommt jetzt heraus, dass Matthäus einen tollen Einstieg für seine Geschichte gefunden hat: Jesus auf Wohnungssuche. Und dann da! Bei Kafarnaum runzeln sich Brauen, erlischt das Lächeln. DA? Wie? DA?
Wie gut Matthäus erzählen kann! Ich muss, Schritt für Schritt, mit nach Sebulon und Naftali gehen, um Jesus zu finden. Und nach Idlib. Und nach …
Der Schluss der Geschichte bindet den Sack dann tatsächlich zu. Jetzt wird alles rund!
„Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“
Und so kunstvoll! Man müsste sich das auf der Zunge zergehen lassen: Hier wohnt Gott!
Der Ruf zur Umkehr ist für uns. Da hat der Evangelist seinen letzten Schachzug formvollendet hingelegt. Umkehr! Heute noch! Hoffnung fällt nicht vom Himmel wie Bomben, Hoffnung will gestiftet, geschenkt, geteilt werden. Hoffnung treibt keinen in die Flucht, Hoffnung gewährt Heimat. Hoffnung hält keine großen Reden, Hoffnung hält Schweigen aus.
Darf ich Ihnen, bevor ich gleich zu meinem Schluss komme, noch sagen, wie die Geschichte ausgeht? Jesus sendet seine Jünger in die Welt. Er sendet uns.
Jetzt suche ich einen Anfang für meine Geschichte. Mensch, Matthäus, so schwer kann das doch nicht sein!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Feri Schermann (1999)