Die Osternacht birst förmlich aus allen Nähten! So viele Geschichten! Eine schöner - oder gelegentlich auch unheimlicher - als die andere. Geschichten, die von dem ersten Tag erzählen, von der Schöpfung - Geschichten, die in tiefe Abgründe und Anfechtungen führen - und Geschichten, die die Erinnerung wach halten, wie Menschen neu ins Leben finden, geradezu in ein "gelobtes Land". Geschichten aber auch, die in immer neuen Wendungen von der Treue Gottes erzählen. Er steht zu den Menschen, die er nach seinem Bild geschaffen hat. Er hält unverbrüchlich an der Treue fest, die er einmal geschworen hat. Das Werk seiner Hände lässt er nicht fahren. Die Osternacht birst förmlich aus allen Nähten!
Lebenswege und Geschichten
Ich wüsste gerne, wie Sie die Geschichten aufgenommen haben, die Sie in dieser Nacht gehört haben. Vielleicht hatten Sie auch das Gefühl, erschlagen zu werden? So viele biblische Geschichten werden selten an einander gereiht.
Aber mit einfachen Worten können wir unsere eigenen Lebenswege in diese Geschichten einzeichnen. Was sich dann so fremd anhört, bekommt ganz viele Gesichter, Erinnerungen - und Hoffnungen.
Jeder von uns erblickte einmal das Licht der Welt. Ging auf Entdeckungstour. Entdeckte die Schönheit und den Glanz des Frühlings. Jeder von uns kennt aber auch die Tiefpunkte, die unser Leben nach unten ziehen. Manche erzählen sogar davon, wie ihnen die Zukunft abhanden gekommen ist. Wie Wege ins Dunkel führen und weit und breit kein Licht zu sehen ist. Jeder von uns ist aber auch in die Hoffnung vernarrt, einen guten Weg zu finden, alte Erfahrungen durch neue zu ersetzen und selbst dem Tod zu trotzen. Der hat viele Gesichter. In jedem bösen Wort versteckt er sich, in jeder Resignation macht er sich breit, Hoffnungen zersetzt er von innen. Wie toll ist da das Bild von dem Meer, das sich teilt: Umgeben von bedrohlichen Mächten gehen wir unbeeindruckt, weit ausschreitet in unser Leben.
Nachtgeschichten, Lichtgeschichten
Wir könnten noch die ganze Nacht erzählen, zuhören - aus uns heraustreten, auf einander zugehen. So viele Ostergeschichten: Wir sehen auf den Anfang: Es werde Licht. Wir zittern mit anderen Menschen wie mit Abraham. Wir lassen uns einladen:
Kommt, schmeckt das Leben - es wird euch geschenkt.
Sie haben schon gemerkt: Die Geschichten dieser Nacht sind auch Nachtgeschichten. Geschichten, die das Dunkle, Abweisende, Schreckliche aushalten. Geschichten, die sich stellen. Mit Ostern hat das nicht nur viel zu tun, sondern alles: Gott hat am Anfang gesagt, als er sein Werk sah: Sehr gut. Aber er schönt das Leben nicht. Er hat sich vielmehr auf den Weg mit Menschen gemacht, die auch Abgründe durchmessen, schuldig werden, Angst haben und Angst verbreiten. Dann hat er, zuletzt - also nicht mehr zu überbieten - dem Tod die Macht genommen. Freigesprochen, losgelassen, geliebt - sind wir auf dem Weg in das "gelobte Land". Davon lässt sich nicht genug erzählen. In dieser Nacht - und in den vielen anderen Nächten, in denen Menschen einsam und verlassen Angst vor dem neuen Tag haben.
Die Jesus-Geschichte
Krönender Abschluss und Höhepunkt der vielen Geschichten dieser Nacht ist das Evangelium. Wir sehen Frauen zum Grab gehen, wir sehen den großen, schweren Stein - und wir sehen eine Öffnung. Zunächst will uns der Stein nicht von der Seele fallen - zu unheimlich ist diese Szene. Was die Frauen wohl gedacht haben? Was uns durch den Kopf geht? Lukas, der uns heute Nacht mitnimmt an diese Stelle, lenkt unsere Ohren auf die Botschaft der Engel - einfach als "Männer" vorgestellt:
Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?
Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden. Erinnert euch an das, was er euch gesagt hat, als er noch in Galiläa war: Der Menschensohn muss den Sündern ausgeliefert und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen.
Jetzt ist sie wieder lebendig: die Geschichte Jesu. Wir sehen seinen Weg vor uns. Wie er das Reich Gottes verkündigt. Wie er heilt. Wie er mit Sündern isst. Wir sehen ihn am Kreuz aufgehängt. Gar von Gott verlassen. Wir sehen die Hoffnungslosigkeit. Wir werden von dem Schweigen erschlagen.
Aber jetzt ist ER wieder lebendig. Wo Schweigen war, bricht das Reden aus. An diesem Morgen - nicht zufällig, am Ende der Nacht. Wir sehen die Frauen, die vor Gericht nicht einmal als Zeugen taugten oder zugelassen wurden, zu den Jüngern gehen - die ihnen nicht glauben. Nicht glauben! Petrus geht verloren zum Grab, verwundert kommt er zurück. Will er verstehen - muss er hören. Was die Frauen erzählen. Nebenbei: eine wunderbare Ostererfahrung: Die, die nichts zu sagen haben, haben alles zu sagen. Was für ein Morgen!
Mir gefällt die Geschichte, die Lukas erzählt, besonders gut. Sie nimmt den Mund nicht voll. Sie gewährt dem Zweifel Raum. Führt dann aber zu einem großen Staunen. Ich bin in guter Gesellschaft!
Die Osternacht birst förmlich aus allen Nähten.
Paul Gerhardt hat dafür die Worte gefunden:
Ich hang und bleib auch hangen
an Christus als ein Glied;
wo mein Haupt durch ist gangen,
da nimmt er mich auch mit.
Er reißet durch den Tod,
durch Welt, durch Sünd, durch Not,
er reißet durch die Höll,
ich bin stets sein Gesell.
Frohe Ostern!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus, unserem Herrn.