Heiliges Jahr der Barmherzigkeit
„Es gibt Augenblicke, in denen wir aufgerufen sind, in ganz besonderer Weise den Blick auf die Barmherzigkeit zu richten…“. Mit diesen Worten ruft Papst Franziskus am 11. April 2015 im Petersdom in Rom ein Heiliges Jahr aus: Das „Heilige Jahr der Barmherzigkeit“ begann am 8. Dezember des vergangenen Jahres und wird am diesjährigen „Christ-König-Sonntag“ beendet.
Bevor die Internetplattform „Wikipedia“ auf das religiöse Verständnis von „Barmherzigkeit“ eingeht, beschreibt sie zunächst neutral: Barmherzigkeit ist eine Eigenschaft des menschlichen Charakters!“
Zu den Grundüberzeugungen unseres Papstes gehört die Gewissheit: Barmherzigkeit ist eines der schönsten Gesichter unseres Gottes. Im Jahr der Barmherzigkeit lädt er uns ein, uns immer mehr darauf einzulassen, dieser Eigenschaft des menschlichen Charakters Raum zu geben und sich entfalten zu lassen. Aber wie geht das?
Wie Jesus Barmherzigkeit gelebt hat
Auf dem Hintergrund dieser Fragestellung möchte ich dem heutigen Abschnitt des Evangeliums nachspüren. Wie hat Jesus das gemacht? Barmherzigkeit zu leben? Schauen wir einmal genauer hin:
Eine Frau wird beim Ehebruch ertappt. Ein schwerwiegendes Vergehen. Ganz allein steht sie im Mittelpunkt der Öffentlichkeit und der religiösen Obrigkeit. Christus erkennt, dass diese Frau zunächst einmal Schutz braucht und aus dem öffentlichen Rampenlicht heraus kommen muss. Deshalb lässt er sich nicht zuerst auf ein Streitgespräch ein, sondern bückt sich und schreibt mit dem Finger auf den Boden. So lenkt er die Aufmerksamkeit von der Frau weg auf sich selbst. Auch wenn er gebückt ist, stellt er sich schützend vor diese Frau.
In einem zweiten Schritt konfrontiert er die Ankläger mit sich selbst, indem er ihren Blick auf ihre eigene Sündhaftigkeit lenkt. Er erinnert sie daran, dass diejenigen, die mit einem Finger auf den Anderen zeigen, immer mit 3 Fingern ihrer Hand auf sich selbst zeigen. Und wendet so nicht mehr den Maßstab der Gerechtigkeit, sondern den der Barmherzigkeit an. Das Recht urteilt nach den objektiven Maßstäben. Die Barmherzigkeit bezieht immer die eigene Existenz in die Beurteilung Anderer mit ein. Und dann wird es, angesichts der eigenen Sündhaftigkeit, schon schwieriger mit Steinen auf andere zu werfen. Das scheinen die Ankläger verstanden zu haben, denn sie bestehen nicht weiter auf einer Anklage, sondern verlassen einer nach dem anderen in Stille die Szenerie.
Eine neue Zukunft
Im dritten Schritt eröffnet er dieser Frau dann einen Weg in eine neue Zukunft. Er hält keine Moralpredigt, wirft ihr nicht die Sünden der Vergangenheit vor, sondern spricht zu ihr das befreiende Wort der Vergebung. Aus dieser vorbehaltlosen Annahme sowie der vergebenden Liebe wird sie die Kraft schöpfen, einen neuen Anfang wagen zu können.
Barmherzigkeit kann also viele Facetten haben. Manchmal mag es schon reichen, sich schützend vor jemanden zu stellen. Ihn aus dem Rampenlicht des allgemeinen Geredes heraus zu nehmen, die Aufmerksame auf sich selbst zu lenken oder sich - im wahrsten Sinn des Wortes - physisch zwischen Menschen zu stellen. Gelegenheiten gibt es sicher viele: in der Kantine beim Mittagstisch, das Gespräch am Gartenzaun, der Stammtisch nach dem Sport oder das Engagement für Migranten und Flüchtlinge.
Mut zur Auseinandersetzung
Es wird allerdings immer mal wieder notwendig sein, sich in Auseinandersetzungen begeben zu müssen. Zumindest dann, wenn wir wegkommen wollen von den Maßstäben der Gerechtigkeit hin zu einer Barmherzigkeit, die die eigenen „Leichen im Keller“ wahrnimmt und diese zum Ausgangspunkt der Beurteilung anderer macht. Mit ihnen gehen wir ja auch gerne „barmherzig“ um. Dabei wäre es eigentlich besser die Steine liegen zu lassen, als mit ihnen auf andere zu werfen. Das Problem ist nur: auch die Pharisäer und Schriftgelehrten sind erst in der Konfrontation mit Christus zu dieser Einsicht gekommen. Es braucht also auch heute Menschen, die mutig und dazu bereit sind. Aber auch das ist ein Dienst an der Barmherzigkeit.
Schauen wir noch kurz auf die dritte Ebene, auf der Jesus Barmherzigkeit erweist. Ist ein solcher Umgang mit einer Ehebrecherin nicht doch etwas zu großzügig? Keine große Moralpredigt, nicht einmal eine klitzekleine Strafe. Verständnis, Liebe und Vergebung. Das ist die einzige Reaktion auf eine so große Sünde.
Gerade die Kirche hat sich mit einem solchen Umgang mit Sündern immer wieder schwer getan. Es entstand manchmal schon der Eindruck: in die Hölle kommst du sehr schnell und ganz einfach, nur den Himmel, den muss man sich verdienen. Wir sind da aber nicht allein. Kaum ein Politiker schafft nach einer Verfehlung - ob es das Plagiat in einer Doktorarbeit oder Drogenkonsum oder etwas anderes ist - ein wirkliches „come back“! Nicht wenige finden das gar nicht so schlimm. Denn wir haben ein sehr sensibles Gespür für Gerechtigkeit und würden es als ungerecht empfinden, wenn „man“ einfach so davon kommen könnte.
Perspektivenwechsel
Deshalb gehört zur Barmherzigkeit immer auch ein Wechsel der Perspektive dazu. Wie sieht denn die Welt aus der Sicht der Frau aus? Wir wissen nichts von ihren Motiven. Was hat sie denn in die Arme eines anderen Mannes getrieben? War es vielleicht Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit? War sie allein mit ihren Kindern und musste für diese irgendwie sorgen können? Wer weiß das? Wer will es beurteilen? Wie würde es mir selbst gehen, wenn ich öffentlich vorgeführt werde? Bedroht werde? Und niemand mir hilft? Wie wird sie das Handeln Jesu wahrgenommen haben?
Und noch einen Schritt weiter gedacht: Was ist denn mit mir selbst? Mit meinen Sünden? Meinem Fehlverhalten? Der Umgang Jesu mit der Ehebrecherin gilt doch auch für mich. Keine Schuldzuweisung, keine Strafe: Barmherzigkeit - Liebe - Vergebung.
Barmherzig mag eine Eigenschaft des menschlichen Charakters sein, wie es Wikipedia sagt. Aber das wirklich tröstliche ist: Barmherzigkeit ist die große Charaktereigenschaft unseres Gottes. Dafür dürfen wir dankbar sein.