Kunstgenuss
In bunten Farben gemalt, ist das große Weltgericht ein Kunstgenuss. Es gibt tolle Bilder! In den bedeutendsten Museen! Da stehen wir dann davor, die Besucher. Wir schauen, rätseln, staunen. Was wir sehen? Menschen, die von Engeln geleitet, schwerelos nach oben gleiten und von den Heiligen in Empfang genommen werden - dann Menschen, mit Erschrecken auf den Gesichtern, von Dämonen und Teufeln gejagt, im Rachen eines Ungeheuers verschwinden. Wir blicken nach oben, nach unten. Wir spüren das Grauen.
Nur: im Museum stellt sich die Frage nicht, zu welcher Gruppe ich gehöre, zu welcher Gruppe ich gehören möchte. Habe ich alles gesehen, trinke ich einen Kaffee. Satt von den vielen Eindrücken. Ein Stücken Kuchen gönn‘ ich mir auch. Ich blättere im Katalog. Was für ein Kunstwerk! Wie gut: Es ist alles weit weg.
Höllenschlund
Aber der Höllenschlund geht mir nicht aus dem Sinn. Ich sehe ihn weit geöffnet. Aber die Teufel haben menschliche Gesichter - oder unmenschliche. Vor 100 Jahren, 1914 hatte der Erste Weltkrieg begonnen. Wie viele Opfer waren schon zu beklagen? Werden noch zu beklagen sein? Der Krieg macht unschuldige Menschen obdachlos, reißt Familien auseinander, nimmt Vertreibungen und Flucht in Kauf. Sogar die Erde blutet.
Heute werden Menschen - ich zähle die Länder nicht alle auf -, vor die Alternative gestellt, muslimisch zu werden - oder Häuser und Heimat zu verlassen. Es sind nicht nur die Christen, die in eine Leidensgeschichte getrieben werden. Weltweit - und doch zum Teil unbemerkt - sind Menschen auf der Flucht. Die Nachrichten platzen - wir können nicht einmal mehr alles wahrnehmen. Von dem Hunger, der immer noch nicht besiegt ist, reden wir kaum noch.
Höllenschlund. Wie viele Menschen werden in ihn getrieben - ohne Urteil, ohne Schuld, ohne Spielraum. Aber das sind doch nicht die Verdammten - schreie ich...
Weltgericht
Jesus erzählt ein Gleichnis. Ein Thron, ein Richterstuhl ist aufgestellt, in Licht getaucht. Herrlichkeit ist das Zauberwort. Aber was sich dann abspielt, gleicht einem Traum, vielleicht mehr noch einem Albtraum. Säuberlich getrennt erstehen vor unseren Augen und Ohren zwei Lager - getrennt wie Schafe und Böcke. Die einen werden das Reich Gottes in Besitz nehmen, das von Anfang an für sie bestimmt ist - die anderen werden in ewiges Feuer geworfen, das den Teufeln und Dämonen zukommt. Selbst farbig gemalt ist es alles "schwarz - weiß". Keine Frage: hier ist alles eindeutig! Hier wird alles eindeutig gemacht!
Der Richter hält sich auch nicht lange mit Zeugenvernehmungen und Plädoyers auf. Sein Urteil ist wohl begründet: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Oder: "Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan."
Aufgezählt werden sieben Erfahrungen, die Menschen machen, wenn sie aus der geordneten Welt herausfallen: Hunger und Durst, Nacktheit, Obdachlosigkeit und Flucht, Krankheit und Gefangenschaft. Die Worte reichen nicht, auszudrücken, was es heißt, wenn Menschen hungern, verdursten, nackt und schutzlos sind, ohne Heimat, ohne ein Zuhause, krank und gefangen. Wie klein, abgehängt, verloren sie sind! Jesus nennt sie "meine geringsten Brüder (und Schwestern)". Der Richter kennt keine Distanz mehr - und Neutralität auch nicht. Das ist schon ein besonderes Verfahren, dem wir beiwohnen - ungewollt.
Ich horche auf. Ich sehe Jesu Verwandtschaft! Als ob ich das vorher hätte wissen müssen - ganz selbstverständlich. Die Herrlichkeit, von der im Evangelium die Rede ist, legt sich über die Szene. Menschen, die Jesus als seine geringsten Brüder und Schwestern ansieht, werden in ein Licht getaucht, das sonst - und anderswo - nur denen zukommt, die groß, bedeutend, klug, reich und herrschaftlich zu punkten wissen. Wir sehen auf einmal eine andere Welt vor uns. Ich kneife ein wenig die Augen zu: Sind denn diese "geringsten" per se besser? Aber: besser als "wer"? Besser als "ich"? Jesus wägt nicht ab. Hier ist alles auf eine Karte gesetzt!
Liebe
Weltgericht! Die ganze Welt ist versammelt. Und Jesus solidarisiert sich - vor den Augen aller Menschen und Völker - mit seinen geringsten Brüdern und Schwestern! Er fragt nicht einmal nach Schuld, nach Hintergründen, nach Erklärungen. Er stellt sich auf ihre Seite. Er ist einer von ihnen! Er wird auch bei ihnen bleiben! Der Weltenrichter!
Viele Menschen haben nicht genug zu essen, genug zu trinken. Sie sind auf der Flucht. In Nussschalen bringen Schlepper sie übers Mittelmeer an die Küsten Europas. Viele überleben das Abenteuer nicht. In der Statistik, die geführt wird, gehen sie in Zahlen unter. Wenn aber ihre Gesichter bei uns auftauchen, stoßen sie zum Teil sogar auf Vorbehalte und Vorurteile. Es soll sogar Menschen geben, die ihnen die Schuld geben, uns auf der Tasche zu liegen und unsere, angeblich kargen Ressourcen zu verbrauchen. Uns etwas weg zu nehmen...
Ich freue mich, dass sich viele Menschen große Mühe geben, Flüchtlinge bei uns willkommen zu heißen!
Dem Evangelium wird nachgesagt, eine Option für die Armen zu haben. Eine Option? Wenn Jesus ein Gleichnis von dem großen Weltgericht erzählt, erzählt er nicht von einer Option - er stellt die Welt auf den Kopf (oder aufs Herz). Ab jetzt werden wir unsere Blicke, unsere Denkansätze, unsere Hoffnungen neu ausrichten müssen. Auf die Verwandtschaft Jesu, auf seine geringsten Brüder und Schwestern. Schwierig ist die Frage schon: Lässt sich "gering" steigern? Gering, geringer - am geringsten?
Ich möchte Jesus lieben. Ihm mein Herz, alles, öffnen. Ich möchte mich zu ihm ausstrecken. Aber ich kann ihn nicht in den Arm nehmen, ihn nicht streicheln: Jesus lieben heißt, ihn in seinen "geringsten Brüder und Schwestern" zu sehen. Aufzuheben. An den Tisch zu setzen. Das Leben, die Zukunft mit ihnen zu teilen. Das so vertraute, vielleicht sogar abgewetzte Evangelium, entpuppt sich in unserer Mitte als - Liebesgeschichte. Liebesgeschichten sind immer voller Überraschungen. Wer liebt, kann sich darüber freuen - wer nicht liebt, bekommt Angst.
Gottes Reich
Heute ist der letzte Sonntag im Kirchenjahr. Er trägt den Namen: Christkönigsonntag. In den Farben des Lebens gemalt, ist das große Weltgericht eine Liebesgeschichte. Eine königliche! Wir schauen, rätseln, staunen. Es geht um Gottes Reich. Aber was sehen wir? Der Weltenrichter präsentiert uns: Hunger und Durst, Nacktheit, Obdachlosigkeit und Flucht, Krankheit und Gefangenschaft. Mehr noch: seine "geringsten Brüder und Schwestern".
"Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden von ihm zusammengerufen werden..."
Ist das Ende wirklich noch offen?
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.