Jesus bringt durch sein ungewöhnliches Verhalten aus der Fassung. – Oder doch umgekehrt? Er gibt denen, die sich auf ihn einlassen eine neue Fassung: Halt, Anerkennung, Wertschätzung. Gerade deshalb ist diese Geschichte so beliebt.
Fassungslos
Woher weiß Paulus eigentlich, dass wir uns so schnell aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen lassen? Stimmt. Man könnte sich die Haare raufen. Wenn wenigstens alles noch zu verstehen wäre, was in der Welt passiert – aber so viel Böses, Widersprüchliches, Unheimliches auf einem Haufen, ist kaum auszuhalten. Wie sich die Gedanken drehen! Ich spüre Angst. Sie gräbt sich tief ein.
Paulus schreibt der Gemeinde in Thessalonich, heute Saloniki:
Lasst euch nicht so schnell aus der Fassung bringen
und in Schrecken jagen,
wenn in einem prophetischen Wort
oder einer Rede oder in einem Brief,
wie wir ihn geschrieben haben sollen,
behauptet wird, der Tag des Herrn sei schon da!
Ein bisschen versteckt in den Zeilen: Menschen haben Angst, dass jetzt der Gerichtstag Gottes kurz bevorsteht. Manche überbieten einander dabei! Eine apokalyptische Stimmung liegt in der Luft. Es ist wohl auch gar nicht so schwer, Schreckensszenarien auszumalen. Nicht nur jeder für sich, sondern mit aufgeregtem Ton anderen über Kopf und Herz gezogen. Verschwörungstheorien geistern durch die Gemeinde. Nur - wer hat sich gegen wen verschworen? Paulus ist sich auch nicht sicher, ob man ihn nicht zum Kronzeugen machen will für unheilvolle Geschichten und Theorien. Nein, dafür mag er sich nicht hergeben. Lasst euch nicht so schnell aus der Fassung bringen…
Das Wort Fassung kennen wir, natürlich. Die Brille hat eine Fassung. Das Gesicht. Der Körper. Auch Gedanken haben eine Fassung. Briefe, Bücher, Urkunden haben eine Fassung. Eigentlich braucht alles eine Fassung. Fassung heißt doch: etwas ist eingefasst, gehalten, gerahmt. Fassung heißt auch, etwas ist unterscheidbar, identifizierbar, sichtbar. Sichtbar mit einem Rahmen. Wie ein Bild.
Dass das Gesicht die Fassung verlieren kann, ja, der Körper nicht mehr gehalten wird, gehört zu den Urängsten, die ein Mensch haben kann. Eigentlich müssen wir immer – gefasst sein. Haltung annehmen. Über den Dingen stehen. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als die Fassung zu verlieren.
Komm herunter
Von Menschen, die die Fassung verloren haben, hören wir im Evangelium. Da ist einmal die Geschichte von einem Zollpächter, der, um Jesus zu sehen, sogar auf einen Baum klettert. Zachäus ist klein von Gestalt. Er wird übersehen. Ja, er wird übersehen, nicht nur, weil er klein ist - er wird geschnitten. Er hat seine Fassung verloren. Oder hat man ihm seine Fassung genommen?
Als Handlanger der römischen Besatzungsmacht ist er zu ächten – mit den feinen Gesten, die seit Menschengedenken eingeübt werden. Als Zollpächter, der seine eigenen Tarife machen kann, steht er doppelt in der Kritik. Ein Ausbeuter, ein Lump, ein Volksverräter. Jetzt hockt er oben im Baum. Geschützt zwar, aber bequem ist seine Lage nicht. Buchstäblich. Wie ein Affe ist er da oben.
Dann kommt Jesus. Er wird von vielen, von allen erwartet. Ob auch heiß ersehnt, weiß man wohl nicht. Jedenfalls sind die Neugierigen, Zaungäste und Frommen vereint. Vereint auch in ihrer Ablehnung. Es gibt viele Gründe, einen Menschen abzulehnen. Die Menge steht da wie eine Mauer.
Das ist zwar dieselbe Geschichte, dann aber auch eine andere.
Jesus geht auf den Baum zu – und durchbricht die Mauer aus Köpfen, Beinen und Armen. Komm herunter, sagt er – ich muss heute bei dir einkehren. Ich muss! Ich muss bei dir – einkehren! Zachäus! Bei keinem anderen! Wir sehen jetzt, wie die Gesichter ihre Fassung verlieren, wie die Worte ihre Fassung verlieren, wie die Gelehrten ihre Fassung verlieren. Eine Gesellschaft verlorener Fassungen. Eine Geschichte verlorener Fassungen.
Was dann folgt, ist so ungeheuerlich wie die Szene am Baum: Jesus hat sich bei dem Zolleinnehmer eingeladen, isst mit ihm, lacht mit ihm, redet mit ihm. Und draußen vor der Tür lauert das Unverständnis, der Vorwurf bodenloser Frechheit, das Urteil, dass Gott selbst nicht mehr weiß, was er tut. Was der Zolleinnehmer Jesus sagt, erfahren wir – die Leute draußen vor der Tür hören nur, was sie sagen. In Rage geredet, mit Gott und seiner Welt uneins, wütend und verbissen mit sich.
Zachäus wird von Jesus gefunden und geheilt – einfach, indem er ihm Gemeinschaft schenkt und Veränderungen zutraut. Auffällig ist das schon: Jesus fordert nichts, aber er schenkt so viel, dass Zachäus ein anderer werden kann. Dass wir das so hautnah mitbekommen, ist alles andere als zufällig. Wir müssen mit den vielen am Straßenrand stehen, wir müssen Zachäus auf den Baum klettern sehen, wir müssen durch Türen und Fenster lugen – wir müssen Jesus sagen hören:
„Heute ist diesem Haus Heil geschenkt worden,
weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.
Denn der Menschensohn ist gekommen,
um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“
Zachäus bekommt eine neue schöne Fassung. Für sein Leben. Seine Geschichte wird eingefasst, gerahmt – und präsentiert. Vor aller Welt.
Eine neue Fassung
Die Geschichte von Zachäus ist sehr vertraut. Nicht nur den Kindern. Wie viele andere Figuren hat der Evangelist Lukas eine fast schon unsterbliche Figur in Farben getaucht. Zachäus: klein, fremd im eigenen Land, verloren. Was für eine Geste: Komm herunter! Herunter vom Baum. Auch: heraus aus deiner Geschichte.
In einem niederländischen Lied von Ad den Besten, übersetzt von Jürgen Henkys, wird diese Geschichte besungen:
Jesus, der durch die Straßen kam,
den Mann vom Zoll zur Seite nahm
und bei ihm wohnen wollte,
dass der sich freuen sollte –
vielleicht kommt er auch heut vorbei,
fragt mich und dich, zwei oder drei:
Wollt ihr mir euer Leben
und was ihr lieb habt, geben?
Dass die Geschichte von Zachäus eine wundersame Gabe hat, die ganze Welt zu verzaubern und zu verändern, könnte uns heute aufgehen. Eine Geschichte, in der Menschen gefunden werden. Eine Geschichte, in der Menschen die Mauern sehen, die sie aufrichten. Eine Geschichte, in der ein großer Frieden in ein Haus einzieht. Mit keinem Geringeren an Bord als – Paulus.
Gehalten durch das Geschenk der Taufe
Paulus hat den Christen in Thessalonich geschrieben, dass sie sich nicht aus der Fassung bringen, nicht vom Schrecken überwältigen lassen sollen – weil sie eine Fassung erhalten haben, weil sie gehalten werden! Das ist das Geschenk der Taufe. Paulus spricht die Menschen darauf an: ihr seid auf Christus getauft. Er ist die Fassung eures Lebens, er ist der Halt eures Lebens. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes – schreibt Paulus an anderer Stelle.
Es ist zwar nicht die Rede davon, dass Zachäus getauft wurde, aber seine Geschichte erzählt auch, dass ihm für sein Leben eine neue Fassung geschenkt wird. Seine Fassung hatte er längst verloren. Oder verspielt. Oder verkauft. Er, der klein ist, der sich klein gemacht hat, wird groß, indem er einen neuen Anfang wagt. Es ist, als ob ihm die Welt noch einmal ganz anders geöffnet wird. Die Mauer hat er gesehen, nein, er hat unter ihr gelitten. Er konnte machen, was er wollte – er war immer falsch. Es war immer falsch. Jetzt ist er durch die Mauer hindurchgegangen. Er wurde durch die Mauer geführt. Nach Hause.
Heute können wir beide Geschichten zusammenlegen, auch zusammenhören, die Geschichte der Christen in Thessalonich und die Geschichte vom Zachäus. Jesus begegnet uns als der, der Menschen eine schöne neue Fassung schenkt.
Vielleicht passt auch das Bild von der Brille. Eine schöne Fassung in meinem Gesicht, ein fein gerahmter Blick auf die Welt, Augen, die Blicke anziehen und aushalten.
Wer sich auf Jesus verlässt, sich von ihm auch etwas sagen lässt, wird seine Fassung nicht verlieren, auch andere Menschen nicht in Schrecken jagen.
Allerdings: die Selbstsicheren, die Neunmalneunklugen, die Superfrommen, die Allesbesserwisser, die Heuchler jedweder Couleur sollen ihre Fassungen verlieren dürfen.
Schwestern und Brüder! Schreibt Paulus.
Wir beten immer für euch,
dass unser Gott euch eurer Berufung würdig mache
und in seiner Macht allen Willen zum Guten
und das Werk des Glaubens vollende.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Josef Kampleitner (2001)