Als ich einmal in einer 6. Klasse Gymnasium, also bei elfjährigen Kindern, die Geschichte von der Prüfung Abrahams behandelte - unsere heutige Lesung - begehrte ein Mädchen auf und sagte, es sei doch schrecklich, dass Gott von Abraham verlangt, seinen Sohn zu opfern. Es sei doch entsetzlich zu hören: "Nimm deinen Sohn und bring ihn als Brandopfer dar. . . und er nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten." Auf meinen vorläufigen Einwand, dass Gott das Opfer letztlich doch nicht gewollt habe, antwortete sie, allein dass Gott jemand so auf die Probe stelle, sei barbarisch genug.
Die Geschichte Jiftachs
Das Mädchen hatte nicht unrecht. Da gilt es weiterzufragen. Zwar geht es bei dieser Schriftstelle um den Glauben Abrahams, aber diese Glaubensprobe ist eingebettet in ein archaisches Weltbild, das es erst zu klären gilt, wenn man an die eigentliche Botschaft kommen will.
Sehen wir uns zunächst in der Schrift selbst um. Es gibt im Alten Testament noch eine weit schlimmere Geschichte als die des Opfers Abrahams, die Geschichte vom Opfer des Jiftach. Jiftach war um 1100 v. Chr. Richter in Israel. Als er gegen die Ammoniter ausziehen musste, machte er Gott ein Gelübde: "Wenn du die Ammoniter wirklich in meine Gewalt gibst und wenn ich wohlbehalten von den Ammonitern zurückkehre, dann soll, was immer mir (als erstes) aus der Tür meines Hauses entgegenkommt, dem Herrn gehören, und ich will es ihm als Brandopfer darbringen."
Jiftach siegte, und als er heimzog, kam ihm seine geliebte Tochter, sein einziges Kind, als erste entgegen. Jiftach opferte sie (Ri 11,29 ff) und Gott ließ das Opfer zu. (Die Stelle findet sich in der Märchenliteratur wieder: Der Müller und der Teufel!)
Menschenopfer
Was ist das für ein Schrecknis? - Nicht Gott ist das Schrecknis, sondern der Mensch, und das Alte Testament ist das Zeugnis der Erziehungsmühe Gottes, um die Menschen zur Menschlichkeit zu führen. Die Geschichte von Jiftach zeigt eine Vorstellungswelt, die wir überall in alter Zeit finden: Will man von den Göttern Segen und Hilfe, so muss man ihnen opfern. Was aber ist das kostbarste Opfer? Das Menschenleben. So opfert Jiftach seine Tochter, so Agamemnon seine Tochter Iphigenie, als das Heer der Griechen gegen Troja zieht, so die Karthager ihre Kinder, als die Römer 204 v. Chr. vor ihren Mauern stehen. So opfern die Römer die feindlichen Könige beim Triumphzug, noch bis in die Jahrhunderte nach Christus. Denn in dem Augenblick, in dem am Jupitertempel auf dem Kapitol das Dankopfer dargebracht wurde, wurden die Besiegten im mamertinischen Kerker hingerichtet. Und in Amerika, im Reich der Azteken, wurden noch am Anfang des 16.Jahrhunderts, bis zur Eroberung durch Cortez, Tausende von Kriegsgefangenen den Göttern geopfert.
"Tu deinem Sohn nichts zuleide!"
Was sagt nun die Abrahamsgeschichte? Sie sagt dem Zeitgenossen das Gegenteil dessen, was sie uns zu sagen scheint. Als diese Geschichte rund 1000 v. Chr. niedergeschrieben wurde, sahen die Israeliten bei den umliegenden Völkern, wie etwa den Kanaanitern, die mitten unter ihnen lebten, dass den Göttern Kinder geopfert wurden, also taten sie es auch. An einer zentralen Stelle der Überlieferung der Abrahamserzählungen, eben in der Erzählung vom Opfer Isaaks, sagt Gott dem Volk Israel: "Tu deinem Sohn nichts zu leide", d.h. "Eure bisherige Ansicht ist falsch, ich will keine Menschenopfer! Ersetzt sie durch Tieropfer." Aber es muss eine schwer zu erlernende Lektion gewesen sein, denn bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. müssen die Propheten immer wieder gegen die Kinderopfer in Israel predigen.
"Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer"
Um diese Zeit hat aber die Offenbarung längst eine weitere Stufe erreicht: »Was sollen mir die Tieropfer, gehört mir nicht alles Getier in Wald und Feld?», spricht Gott im Psalm 50, »was soll ich mit dem Fleisch von Stieren? Lobt Gott und lebt rechtschaffen!« Und bei Hosea um 750 v. Chr. heißt es: »Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer.« Aber auch in diesen 700 Jahren bis zu Christus hin scheint dies nicht verstanden worden zu sein, warum nähme sonst Jesus diesen Ruf auf, wenn er spricht: "Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer" (Mt 9,13).
Angst vor Gott.
Was ist daran eigentlich so schwer zu lernen? Sehr viel! Der Mensch ist bereit, alles Mögliche herzugeben, sogar die eigenen Kinder, nur sich selbst nicht, seine Freiheit. Ein Gott, der Hingabe, Liebe verlangt, ist ihm nicht geheuer, der Mensch hat Angst, die Selbstbestimmung zu verlieren, die er durch Gott bedroht wähnt. So braucht es uns nicht zu wundern, dass auch die zweitausend Jahre der Kirchengeschichte immer wieder das Unvermögen zeigen, diese Lektion zu lernen. Freilich sind die Formen des sich Loskaufens durch Opfer in der Zeit der Kirche subtiler geworden. Die frommen Leute opfern, gerade jetzt in der Fastenzeit, Gebete, Fasten, Wallfahrten und anderes, die weniger frommen Zigarettenrauchen, Fernsehen, Schokolade. Das mögen alles sehr lobenswerte und wichtige Handlungen sein, aber das Vorzeichen muss stimmen. Fasten hat in erster Linie den Sinn, den Menschen zu verinnerlichen, nicht aber vor Gott eine große Leistung zu vollbringen, die man vorrechnen kann.
Eine Zeit der wachsenden Barmherzigkeit
Wir stehen am Anfang der Fastenzeit. Es gibt viele Möglichkeiten, sie sinnvoll zu gestalten. Dass wir in dieser Zeit besonders derer gedenken, die in Not leben und für diese finanziell Opfer bringen, versteht sich von selbst. Aber manche Not werden wir nur entdecken, wenn wir daran denken, dass diese Zeit besonders eine Zeit der wachsenden Barmherzigkeit sein muss, eine Zeit, in der wir uns besonders bemühen, in unser Leben hineinzuhören, um wie Abraham zu erfahren, was Gott und nicht wir für das rechte Opfer, die rechte Barmherzigkeit hält.
Hören wir nochmals den Propheten Hosea: »Lasst uns streben nach Erkenntnis, nach der Erkenntnis des Herrn, denn so spricht der Herr: Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer« (vgl. Hos 6,3.6).
Alfons Jestl (2000)
Hans Hütter (1997)