Papa!
So bekannt – und doch so geheimnisvoll: Das Gebet des Herrn, das Vater unser. Aus dem Lateinischen (pater noster) kommt die Wortstellung: Vater unser. So hat Matthäus das Gebet in der Bergpredigt Jesu überliefert. Der Evangelist Lukas aber ist sprachlich näher dran: Vater! Oder – noch ursprünglicher: Papa! Das hört sich auch besser und schöner an, wenn auch – wir Menschen sind Gewohnheitstiere – fremder. Merkwürdig: warum fremder? Jedenfalls können sogar Menschen, die mit Kirche nicht mehr vertraut sind, sich in diesen Worten wieder finden. Und sie aus vollem Herzen mitsprechen. Vater! Was das mit unseren Vorstellungen von Gott macht? Mit unseren Bedenken und Zweifeln? Hier entdecken wir die geheimnisvolle Seite dieses Gebetes – es hat mit Gott keine Probleme! Eine ungeheure Gewissheit, eine große Vertrautheit, eine tiefe Liebe drückt sich in diesen Worten aus. Hat Jesus es gebetet? Als er an dem Ort war, von dem Lukas erzählt? Ist es sein Gebet? Er war mit dem Vater auf Du und Du. Im Johannesevangelium hören wir ihn sagen: Ich und der Vater sind eins.
Versuchung
Wir könnten jetzt Zeile für Zeile bedenken, Bitte für Bitte. Aber ich bleibe bei der letzten Bitte hängen: Führe uns nicht in Versuchung. Als Kind fand ich diese Bitte sehr befremdlich. Führt der Vater denn in Versuchung? Absichtlich? Entschuldigung – hinterfotzig dachte ich. Im Studium lernte ich dann die alten Meister und Ausleger kennen, die sich seit Jahrhunderten mühen (oder ergötzen), die Schönheit dieses Gebetes auszuloten. Nein, sagten viele von ihnen: Gott führt nicht in Versuchung, aber wir bitten um Kraft, mit Versuchungen umzugehen. Logisch erscheint mir das nicht. Irgendwann merkte ich, dass Gott nicht so sein darf... Da sind sie dann wieder: die Bilder, die wir uns von Gott machen. Was ist, wenn er doch – in Versuchung führt?
Ich denke an Abraham. Als alter Mann bekommt er die Verheißung, Stammvater eines riesigen und bedeutenden Geschlechtes zu werden. Aber seinen Sohn, den einzigen, Isaak, soll er opfern. Opfern? Abrahams Vertrauen wird auf die Spitze getrieben – und auf die größte und schlimmste Probe gestellt. Gerade diese Geschichte hat Menschen immer schon bewegt. Auch, weil sie in ihrem Leben tatsächlich das Gefühl hatten, von einer geheimnisvollen Instanz, für die nicht einmal ein Name zur Verfügung stand, auf die Probe gestellt zu werden. Aber zu welcher? Mit welchem Sinn? Es fällt schwer, Gottvertrauen und zärtliche Anhänglichkeit mit einem Vater zu verbinden, der schier wie ein Despot Leben auf die Probe stellt, Exempel statuiert und Examina auferlegt, die kein Mensch bestehen kann.
Ich denke an Hiob. Erfolgreich, vom Leben verwöhnt, ganz oben – und dann fällt er ganz tief. Er sitzt in der Asche. Im Himmel hat sich der Satan an Gott herangemacht: Dein Hiob glaubt doch nur, weil du ihn verwöhnst. Entzieh ihm deine Gunst und du wirst schon sehen, was mit ihm los ist. Und Gott lässt nicht nur zu, dass der Böse in seiner Umgebung Zweifel sät, er gibt ihm freie Hand. Jetzt bricht das Unheil über Hiob herein. Wirtschaftlich ruiniert, von Unfällen heimgesucht, krank und elend. Seine ganze Familie, Kinder, Enkel, umgekommen. Und Hiob sitzt in der Asche. Seine Frau drängt ihn, sich von Gott loszusagen. Freunde tauchen auf, die ihn mit der ältesten und schwersten Frage bequatschen, warum es denn diese Ungerechtigkeit gibt. Hiob aber bleibt standhaft. Hiob verteidigt Gott. Sogar gegen sich selbst. Fairerweise muss man sagen, dass diese Geschichte nicht glatt aufgeht, aber Hiob besteht diese entscheidende Probe seines Lebens: Von dem Vertrauen, das er in Gott setzt, lässt er nicht. Und er wird gehalten.
Proben des Lebens
Das sind zwei Beispiele. Wir finden noch mehr, wenn wir suchen. Ungleich wichtiger ist aber, dass wir unsere eigenen Erfahrungen erzählen und Worte für sie finden. Wir wissen doch, dass viele Erfahrungen, die wir machen, mit existentiellen Proben verwandt sind. Bestehen wir denn die Proben des Lebens? Probieren wir uns aus? Was entdecken wir dann? Was trägt uns? Einen festen Platz in unseren Gebeten hat freilich, dass wir nicht so auf die Probe gestellt werden, uns zu verlieren, den Halt, das Vertrauen, alles, was uns Mut macht. Es gibt solche Proben:
Neben Abraham und Hiob lebt eine junge Familie. Nachbarschaft. Es sind drei Kinder da. Sie sind noch klein. Dann wird ein Kind krank. Lange weiß man nicht, was es hat. Dann wird die Diagnose gestellt: Leukämie. Die beiden Geschwister wissen nicht, was das heißt. Die Eltern sind entsetzt, traurig, hin- und hergerissen. Die Medizin habe große Fortschritte gemacht, sagen sie sich. Aber ab jetzt sitzt eine große Angst mit am Tisch. Offen damit umgehen? Wie schwer das ist, Worte zu finden... Lieber alles in sich hineinfressen? Wie schwer das ist, „gut“ zu sagen, wenn die Frage gestellt wird: Wie geht’s? Eltern und Kinder sind eine eingeschworene Vertrauensgemeinschaft, normalerweise, aber obwohl wir alle einmal sterben werden, was macht das mit Menschen, wenn sie den Tod vor der Zeit, vor aller Zeit, sehen? In einer Predigt darf man so etwas fragen, im Gespräch überwiegt das Vertrauen, das Vertrauen in das Leben. Aber die Probe ist da, auch die Versuchung. Die Versuchung, ganz allein zu sein. Gott wird dann zu einem Fremden. Vater? Auf viele Fragen haben wir keine Antworten, und wenn wir sie versuchen, geraten wir an Grenzen. Hier in der Kirche sprechen wir das vor Gott aus. Auch klagend, auch bittend.
Führe uns nicht...
Wir beten mit den Worten Jesu, dass uns der Vater nicht in Versuchung führt. Die Worte legen eine aktive Rolle Gottes nahe: Er führt, er führt tatsächlich, auch in die Versuchung. Aber wohin führt er uns sonst? Ist alles Versuchung? Wir bitten, im Leben von Versuchungen verschont zu werden. Nicht auf die Probe gestellt zu werden. Aber so sicher bin ich mir nicht, ob das gut wäre, ob das überhaupt in der Bitte Jesu steckt.
Wir suchen doch die Herausforderungen! Wir brauchen sie! Vertrauen muss wachsen, Liebe muss wachsen, und sie müssen etwas aushalten können. Sonst tragen sie nicht, sonst taugen sie nicht. Vertrauen muss sich bewähren! Liebe muss sich bewähren. Instinktiv vertrauen wir darauf. Ohne groß darüber zu reden. Manchmal aber bekommen Worte einen fast schon himmlischen Klang: Bei der Hochzeit versprechen wir uns ewige Liebe (und glauben fest an sie), wissen aber, dass sie zerbrechlich und sehr zart ist. Sie kennt das Geheimnis von Probe und Versuchung.
Vielleicht gehört es zu den Geheimnissen Gottes, dass er uns eigentlich immer auf die Probe stellt und uns Proben zumutet! Er hat ein großes Vertrauen! Zu uns! Eine große Liebe! Das hebt uns, das trägt uns. Gewiss. Aber weil wir um unsere Grenzen wissen, gelegentlich auch Angst um uns haben, bitten wir mit den Worten Jesu: Führe uns nicht in Versuchung. Gemeint ist: Führe uns nicht in die Versuchung, in der wir alles verlieren. Vertrauen. Mut. Liebe. Führe uns nicht in die Versuchung, die wir nicht bestehen können, die uns über den Kopf, übers Herz wächst. Führe uns nicht in die Versuchung, in der wir verloren gehen, in der wir uns nicht mehr finden können.
... in Versuchung, dem Tod das letzte Wort zu geben
Ausloten, ganz verstehen lässt sich diese Bitte theoretisch nicht. Aber wir übernehmen Worte Jesu, um uns von ihnen zum Leben anstecken zu lassen. Abraham ist zu einem Stammvater eines großen Volkes geworden, gar zum Stammvater aller Glaubenden. Hiob hat mit Gott, mit sich, mit seiner Frau, mit seinen Freunden gerungen und schenkt bis heute Menschen Gedanken und Worte, mit dem größten Leiden umzugehen. Und die Familie mit dem kranken Kind hat die Kraft gefunden, eine schwere Zeit mit Hoffnung und Freude zu bestehen.
Übrigens: Jesus selbst wurde immer wieder in Versuchung geführt. Bis zuletzt. Aber er konnte dem Tod das letzte Wort entwinden. Jesus sagt: ich und der Vater sind eins.
Wir beten: Führe uns nicht in Versuchung... Führe uns nicht in Versuchung, dem Tod das letzte Wort zu geben.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.