Vor etwa siebzehn Jahrhunderten wurde das Christentum Staatsreligion. Das war im Jahre 380. Man nannte dies die sog. Konstantinische Wende, unter dem römischen Kaiser Konstantin. Die sich daraus ergebende Allianz zwischen Kirche und Staat war nicht immer von Segen. Es war keine „heilige Allianz“. Nicht selten wurde die Christianisierung des Abendlandes mit Gewalt erzwungen. Das ist Gott Dank nun schon lange her.
Wir leben in der Diaspora, in der "Zerstreuung"
Wie steht es heute um das Christentum, um den Glauben in unserem Land, in Europa? Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte man in Frankreich, dass ihr Land zu einem Missionsland geworden war. Weil bei uns in Deutschland die Situation, wenigstens dem Erscheinungsbild nach, noch nicht so alarmierend war, verschloss man zu lange die Augen vor der fortschreitenden Ent-christlichung unserer Gesellschaft. Der christliche Glaube ist im Schwinden begriffen. Viele Menschen sind zwar noch eingeschriebene Mitglieder der Kirche geblieben, gehören aber in ihrem Innern nicht mehr zu ihr. Wir leben in der Diaspora.
Das aus dem Griechischen stammende Wort Diaspora bedeutet „Zerstreuung“. Früher haben wir Diaspora so verstanden, dass Katholiken als Minderheit in einem protestantischen Umfeld leben, oder umgekehrt. Heute ist es so, dass Katholiken wie Protestanten die Minderheit bilden gegenüber einer Mehrheit von Menschen, die unseren christlichen Glauben nicht mehr teilen, die keiner christlichen Kirche angehören, aus Gründen wie immer. Ähnlich war es auch in den ersten Jahrhunderten, wo Christen eine kleine Minderheit waren in einer heidnischen Umgebung.
Wir leben in einer nachchristlichen Gesellschaft. Die Zahl überzeugter Christen geht immer mehr zurück. Das christliche Abendland gibt es nicht mehr. Dies zeigt sich zunehmend auch in traditionell christlichen Gebieten. Die meisten, die jetzt wegen der Missbrauchfälle oder wegen des Bischofs Thebarth van Elst die Kirche verlassen, waren innerlich schon gar nicht mehr dabei. Wenn sie dann offiziell den Kirchenaustritt vollziehen, bekunden sie damit ehrlicherweise, dass sie der Kirche nicht mehr angehören wollen. Vereinzelt gibt es auch Menschen, die aus der Kirche als „Körperschaft öffentlichen Rechtes“ austreten, jedoch weiterhin Christen bleiben.
Offen und entschieden Christ sein
Wie sollen wir Christen uns dieser geschilderten Diaspora-Situation stellen? Papst Paul VI. hat vor Beginn des zweiten Vatikanischen Konzils in einer Enzyklika (Ecclesiam suam) über den Dialog mit Andersdenkenden folgendes geschrieben: „Bevor man die Welt zum Glauben führt, um sie zu bekehren, muss man sich ihr nahen und mit ihr sprechen... Unser Dialog soll keine Grenzen und keine Berechnung kennen.“ Dies will bedeuten, dass wir uns auf Menschen anderer Denkungsart und anderer Verhaltensweisen ohne Vorbehalt einlassen, sie zu verstehen suchen. Wir verraten dabei nicht unseren Glauben. Wir bleiben unserem Glauben treu, wenn wir den anderen in seiner Überzeugung ernst nehmen, seinen Standpunkt respektieren, ohne ihn uns zu Eigen zu machen. In der Begegnung mit kirchlich distanzierten Menschen, bei unserem Bemühen, den sog. Fernstehenden offen zu begegnen, müssen wir die Kirche nicht um jeden Preis zu verteidigen suchen. Wir sollten vielmehr wahrnehmen, was Menschen an der Kirche stört. Es gibt auch verschiedene Grade von Distanz und Nähe.
Nicht die Augen für das Gute verschließen
Wir dürfen nicht übersehen, dass es auch außerhalb der Kirche überzeugend lebende Menschen gibt, was ihr mitmenschliches Verhalten angeht. Ohne dass sie sich dessen bewusst sind, verwirklichen sie Werte, die ihre Wurzeln im Christentum haben. Der „Instinkt“ für das von Jesus verkündete Evangelium ist bei vielen Suchenden nicht verloren gegangen. Es sind auch oft gar keine unreligiösen Menschen. Was speziell die Beziehung zur Kirche betrifft, so wäre wahrzunehmen, wie ihre kritische Einstellung zur Institution Kirche konkret aussieht. Im Gespräch müssten wir heraus hören, welche Erwartungen Menschen an die Kirche haben und welche Hilfen sie vielleicht doch noch von ihr erhoffen. Augustinus hat einmal gesagt, es wären außerhalb der Kirche Menschen anzutreffen, die dem Herzen nach in der Kirche sind. Und dass es in der Kirche Menschen gäbe, die durch ihr Verhalten außerhalb der Kirche leben. Das 2. Vatikanische Konzil hat sich dieses Augustinuswort zu Eigen gemacht.
Es kommt immer wieder vor, dass Eltern oder Großeltern im Gespräch ihre Sorge äußern, dass ihre Kinder oder Enkel zur Kirche auf Distanz gegangen sind, nicht mehr am Gottesdienst teilnehmen. Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil sie deren Verhalten zu wenig angemahnt haben. Ich sage ihnen dann, dass es zwei Dinge zu beachten gäbe. Dass sie selbst aus christlicher Überzeugung zu leben versuchen, so dass die jungen Menschen wahrnehmen können: Meinen Eltern oder meinen Großeltern bedeutet der Glaube, auch die Teilnahme am Gottesdienst, sehr viel. Und das Zweite: Die jungen Menschen ihren Weg gehen zu lassen und ihnen immer gut zu sein. Mehr nicht. Der hl. Augustinus hat einmal gesagt, es käme nicht darauf an, dass wir die Menschen haben, sondern dass Gott sie hat.
Im Evangelium (Lk 9, 49-56) haben wir gehört, Jakobus und Johannes, die beiden Söhne des Zebedäus, wären darüber erzürnt gewesen, dass sie in einem samaritischen Dorf abgewiesen wurden und keine Unterkunft fanden. Sie fragten Jesus, ob sie nicht Feuer vom Himmel fallen lassen sollen, um die Samariter zu vernichten. Deshalb wurden sie Donnersöhne (Boanerges) genannt. Doch Jesus wies sie zurecht. Gemäß einer als sicher geltenden Variante in der Textüberlieferung fügte Jesus hinzu: „Ihr wisst nicht, was für ein Geist aus euch spricht. Der Menschensohn ist nicht gekommen, um Menschen zu vernichten, sondern um sie zu retten.“
Entschieden den Glauben leben
In der Situation der Diaspora, in der wir leben, käme es käme es darauf an:
- Dass wir bewusst aus dem Glauben an Jesus leben und an seine befreiende Botschaft glauben.
- Dass wir die von Jesus gewiesenen Wege des Evangeliums noch konsequenter gehen, ohne nun perfekt sein zu wollen.
- Dass wir in der Begegnung mit den Menschen den eigentlichen Test für die Wahrhaftigkeit unseres Glaubens erbringen, nämlich den Test der Liebe.
Jesus sagt: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt“ (Joh 13, 35). Gelebte Überzeugung von Menschen, durch ihr Leben glaubwürdig bezeugt - anders können wir den Glaube an Jesus und sein Evangelium nicht fortzeugen. Abschließend noch einmal ein Wort des hl. Augustinus: Nemo intrat in veritatem, nisi per caritatem. „Niemand kommt zur Wahrheit, wenn nicht durch die Liebe.“
NB: Als Lesungstext empfehle ich Apg 11, 19-26; als Evangelium: Lk 9, 49-56. Zu finden im Lektionar „Besondere Anliegen“, S.137 und S.123.
Martin Stewen (2013)
Norbert Riebartsch (2004)
Lorenz Walter Voith (2001)