Gerechtigkeit geht anders
"Die Lohnschere in der Schweiz hat sich in den letzten 30 Jahren bedrohlich geöffnet. Die Saläre der Manager sind förmlich explodiert." - Mit diesen eindringlichen Worten beginnt die Beschreibung der in der Schweiz zur Abstimmung anstehenden 1:12-Initiative: Sie verlangt, dass gesetzlich geregelt wird, dass der höchste Posten eines Unternehmens maximal zwölffach so hoch dotiert sein darf wie der niedrigste Job in dieser Firma. Die Wogen schlagen hoch: Die einen freuen sich, dass es mit der vorgeschlagenen Gesetzesänderung den "Abzockern" in der Wirtschaft an den Kragen gehen könnte, die anderen sehen den Wirtschaftsstandort Schweiz bedroht. Welche Position man auch immer zur 1:12-Initiative bezieht, sie weist in ihrem Wesen doch auf etwas hin, dass anscheinend allmählich vergessen geht: dass der Lohn des Arbeiters oder das Gehalt des Angestellten etwas ist, das der Mensch bekommt für eine Arbeit, die er tun soll, für eine Leistung, die er zu erbringen hat.
Gemeinhin war immer davon ausgegangen worden, dass es also eine Beziehung gibt zwischen geleisteter Arbeit und deren Entgelt. Immer wieder hört man jedoch von unglaublichen Salärsummen, zu denen man sich fragen darf, was das für eine Arbeit ist, die dafür geleistet wurde.
Genug ist genug
"Ihr wisst, wie man uns nachahmen soll. Wir haben bei euch kein unordentliches Leben geführt und bei niemand unser Brot umsonst gegessen; wir haben uns gemüht und geplagt, Tag und Nacht haben wir gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen." - so hörten wir in der Lesung an die Gemeinde in Thessaloniki. Der Autor macht deutlich, dass er immer wieder Zuwendungen erhalten hat, für die er hat zahlen wollen - zumeist in Form von geleisteter Arbeit im Gegenzug. Für den Wert, den er erhalten hat, hat er einen Gegenwert geleistet. Auf den Punkt und zusammengefasst bedeutet diese Erfahrung: "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen."
Wer einem anderen Menschen aber einen Dienst oder eine Ware mit einer Gegenleistung abgilt, der schafft aber noch etwas mehr als nur eine Situation der Gerechtigkeit. Wer einen Wert für einen Gegenstand oder einen Lohn bezahlt, drückt damit auch eine Wertschätzung demjenigen gegenüber aus, der den Wert erbracht hat. Mit der Bezahlung oder mit der Gegenleistung mach ich dem Anderen klar, dass er mir etwas Wert-volles entgegen gebracht hat. Lediglich bei Geschenken oder anderen Zuwendungen erwarte ich eine derartige Wert-Schätzung, die zu mir zurück kommt, nicht.
Warum Geben seliger ist als Nehmen
So gesehen haben also Geld- oder Sachmittel zunächst einmal die Aufgabe der Beziehungspflege der Menschen untereinander, sie sorgen zum einen für Gerechtigkeit, zum anderen für Wertschätzung. Und in dem Moment, wo die Gleichmäßigkeit dieser Bewegung gestört wird, wo Geld diese Bedeutung für die Gerechtigkeit und Wertschätzung verliert und sich selbständig macht, bekommt es einen schwierigen Charakter. Darauf zielt der Gottessohn etwa ab, wenn er den Menschen predigt: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als das Reicher in das Himmelreich gelangt" (Mk 10,25 par). Für Jesus ist nie die Menge an Geld, die ein Mensch hat, der Maßstab seines Urteils, sondern immer die Antwort auf die Fragen: Hast du dein Geld gerecht und fair erworben? Und: Setzt du es ein, dass Gerechtigkeit erhalten bleibt und Wertschätzung gewährleistet ist? Für eine Welt, die ausschließlich den Gütern und ihrer Vermehrung zugetan ist, zeichnet Jesus ein apokalyptisches Bild. Der Kampf um Vorräte führt zu allem Schlechten, was sich ausdenken lässt, so hörten wir im Evangelium.
Merkwürdige Randgruppen?
Solch ein alternatives Denken ist nun aber so schwer zu finden wie die berühmte Nadel im Heuhaufen. In unserer Gesellschaft heute finden wir Verzicht auf Besitz um seiner selbst willen fast ausschließlich in Ordensgemeinschaften, deren Mitglieder die Besitzlosigkeit versprechen. Überwiegend wurde und wird aber doch immer geglaubt, dass man von Geld an sich nie genug haben kann, selbst wenn man es nur um seinetwillen hat und keinerlei vordergründigen Nutzen sieht. In vielen Köpfen hat Geld an sich einen Wert, dabei gibt es doch erfahrbare Grenzen, außerhalb derer Besitz sinnlos ist: Der Mensch ist eh nicht in der Lage, allen Besitz zu benutzen oder ab einer bestimmte Menge das Geld wirklich sinnvoll einzusetzen ohne zu prassen. Dass solch ein Denken vielerorts vollkommen gegen den Mainstream verläuft und dass das Interesse am Eigenen allzu oft dominiert, ist auch dem Gottessohn nicht aus dem Blick geraten.
Die Forderung nach einer alternativen Gesellschaft, die in Gerechtigkeit und Fairness lebt, war und ist zu allen Zeiten eine Provokation, mit der man sich sehr nachhaltig Feinde machen kann: "Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden", hörten wir heute im Evangelium Jesus seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern zurufen.
"Was sollen wir tun?"
Wie ist das heute? Was sind heute unsere Möglichkeiten, eine gerechte und faire Gesellschaft zu gestalten? Nach der Art eines Franz von Assisi auf alles - selbst auf die eigenen Kleider - zu verzichten ist schlicht unmöglich - in einer Zeit, in der selbst Klöster Aktionäre sind. An Materiellem geht in unserer Welt kein Weg vorbei. Und dennoch bleibt die Mahnung Jesu auch für uns heute bestehen, dafür zu sorgen, dass es gerecht zu und her geht. Viel zu viele Beispiele auf der ganzen Erde zeigen, wie die Gesellschaft in Schieflage gerät, wenn Güter und Ressourcen ungerecht verteilt sind. Gerechtigkeit muss herrschen in den engsten Bezügen von Familien und kleinen Kreisen, Gerechtigkeit muss herrschen bei der Verteilung der Güter in einem ganzen Land - die Güter und Ressourcen müssen auch gerecht verteilt sein - weltweit. Und der Weg zu Gerechtigkeit und Fairness beginnt nicht an Wahlurnen oder in Parlamenten - sondern im eigenen Kopf und Herzen.