Begegnung mit einer anderen Welt
Vor einigen Jahren nahm ich als Vertreter unserer Ordensprovinz an der Eröffnung der Theologischen Ordenshochschule in Lemberg (Lviv) in der Ukraine teil. Für mich war diese Reise eine Begegnung mit einer mir bis dahin noch fremden Welt. Die Folgen der Jahrzehnte langen kommunistischen Ära waren noch auf Schritt und Tritt zu sehen und zu spüren. Weite Kreise der Bevölkerung lebten in bitterer Armut. Die mit Rom verbundene griechisch-katholische Kirche, zu der meine Mitbrüder gehören, erfuhr hohe Anerkennung. Fremd war mir die religiöse Kultur dieses Landes. Viele Ausdrucksformen des Glaubens haben sich in Anlehnung an die Orthodoxe Kirche entwickelt.
Bald nach unserer Ankunft waren alle Hausbewohner und Gäste zur Vesper eingeladen, die nach griechisch-katholischem Ritus gesungen wurde. Obwohl ich kein Wort verstand, war ich vom Gesang nach wenigen Minuten gleichsam in eine andere Welt entrückt. Dieser Bewusstseinszustand lässt sich schwer beschreiben. Ähnliches kannte ich aus der Beschäftigung mit der Zen-Meditation und zum Teil auch vom gemeinsamen Rosenkranzgebet.
In eine andere Welt entrückt
Das Evangelium des 2. Fastensonntags erzählt uns von einer religiösen Erfahrung, an der Jesus 3 ausgewählte Jünger teilnehmen ließ. Im Gebet wurden sie in eine Welt geführt, die als lichtdurchstrahlt und als glänzend beschrieben wird; entrückt und vom Alltag abgehoben. Die Jünger finden diesen Zustand als so beglückend, dass sie darin verharren möchten.
Als Besonderheit dieser Erfahrung wird von einem Gespräch Jesu mit Mose und Elija berichtet und von einer Stimme aus einer Wolke, die in gleicher Weise wie in der Erzählung von der Taufe Jesu im Jordan ihn als geliebten Sohn vorstellte, an dem sie Wohlgefallen gefunden habe.
Der Trance-Zustand, der hier beschrieben wird, ist den meisten Religionen bekannt. Jede lehrt Wege, wie man einen solchen Bewusstseinszustand erreichen kann. Meistens wird er als eine Lichterfahrung, bzw. als Erleuchtung beschrieben. Was diese Erfahrung der Verklärung und Entrückung für Jesus und die drei Jünger bedeutete, können wir nur erahnen. Wir können nur Vermutungen darüber anstellen.
Das Besondere dieser Begebenheit liegt wohl in den Inhalten, die darin zutage treten. Jesus bespricht sich mit den beiden großen geistlichen Führern des Volkes Israel, Mose und Elija. Sein Leben - er selbst befindet sich auf dem Weg nach Jerusalem, dort wird er gekreuzigt werden und auferstehen - steht im großen Zusammenhang dessen, was Gott mit ihm und seinem Volk vorhat, im Zusammenhang der Heilsgeschichte.
Das zweite außergewöhnliche Motiv ist die Bestätigung der Sendung Jesu durch eine Stimme aus der Wolke. Aus der Wolke sprach in der Überlieferung Israels Gott selbst, da die Menschen ihm nicht direkt von Angesicht zu Angesicht begegnen können, ohne dabei zugrunde zu gehen. Die Stimme aus der Wolke bekräftigt, dass Gott selbst hinter dem steht, was auf Jesus zukommt.
Über das Alltägliche hinaus
Fasten und Beten sind uralte "Techniken", mit denen Menschen aller Religionen versuchen, über die gewohnten Bewusstseinszustände hinaus zu kommen, den Alltag zu überschreiten und den eigenen Platz im Kosmos zu finden.
Auch Christen fasten. Viele müssen den tieferen Sinn dieser Praxis erst wieder entdecken. Sie bereiten sich damit auf das große Fest des Todes und der Auferstehung Jesu vor. Was durch den Leidensweg Jesu geschehen ist, lässt sich nur auf einer anderen Verstehens- und Bewusstseinsebene begreifen. Erst im großen Zusammenhang der Geschichte Gottes mit seinem Volk, im großen Zusammenhang der Heilsgeschichte gewinnt dieses Ereignis seinen Sinn.
Die Erzählung von der Verklärung Jesu verweist aber auch auf das Ziel unseres Lebens: Erfüllung und Vollendung findet es erst, wo wir jene andere Ebene einbeziehen, die unser Alltagsleben übersteigt.
Unsere vordergründigen Lebenserfahrungen sind oft unverständlich. Wir leiden an der Endlichkeit der Schöpfung und an der Endlichkeit unseres eigenen Lebens. Diese begegnet uns in der Krankheit, im Tod, im Sterben-müssen, in den persönlichen Unzulänglichkeiten, im Aneinander-schuldig-werden und im Einander-schuldig-bleiben. Ohnmächtig stehen wir diesen Schattenseiten des Lebens gegenüber. Im Fasten und Beten suchen wir Wege, wie wir im Wissen um eine andere viel größere Welt, die unsere direkt erfahrbare Welt übersteigt, trotzdem Halt und Geborgenheit finden können.
Jesus stellt uns dabei – und das ist wohl das Besondere des Christentums – einen Gott vor, der trotz allem mit Wohlgefallen auf uns schaut, der uns persönlich liebt und damit Halt und Hoffnung gibt.
Die Fastenzeit möchte unseren Erfahrungshorizont weiten, damit wir fähig werden, in jenes große Geheimnis von Tod und Auferstehung einzutreten, und damit wir daraus Kraft und Halt schöpfen.