„Du spinnst!“
Wir saßen in der Kneipe zusammen. Eine muntere Runde. Und die Gespräche ganz leicht. Na, worüber predigst du denn am Sonntag, fragte dann einer. Plötzlich. Was sollte ich sagen? Sagte ich: Lukas 14 - versteht mich keiner. Über das Evangelium - wär’s zu allgemein. Also zitierte ich das Jesus-Wort: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein."
Betretenes Schweigen. Kannst du das noch mal sagen? Und ich sagte es noch mal. Das andere Jesus-Wort fügte ich an: "Darum kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet." - Ich erwartete keine Zustimmung, aber es traf mich dann doch hart: „Du spinnst!“
Erinnerungen
Spinnerei. Mir fallen Menschen ein, die genau das wörtlich nahmen, was sie im Evangelium vernahmen. Ich denke an Elisabeth von Thüringen – wir feiern in diesem Jahr ihr Jubiläum. Sie hat alles aufgegeben, was ihr an Stand und Hof zur Verfügung stand. In der Not löste sie die eigene Vorratskammer auf, versilberte ihren Schmuck und legte die guten Gewänder ab. Ihr Weg ging von der Burg in die Gosse. Selbst ihre Kinder hat sie, zwar gut versorgt, aber immerhin unerbittlich, weggegeben. Um ganz für die Armen, Kranken und Verstoßenen da zu sein. Ja, sich für sie zu verzehren. Eine Spinnerin? Und dann auch noch heiliggesprochen?
Ich denke an Dietrich Bonhoeffer. Er hat die Karriere, die ihm möglich gewesen wäre, eingetauscht mit Konspiration, ja, am Ende mit Gefängnis und Tod. Sein Leben konnte er nicht an die erste Stelle rücken, als er das Unheil sah, dass im Namen der Vorsehung über andere Menschen kam. Dem Rad musste er in die Speichen fallen. Dass er als Vaterlandsverräter galt, konnte er noch verschmerzen, dass ihm aber seine Bekennende Kirche die Fürbitte verweigerte, wird ihn getroffen haben. Gesagt hat er nichts dazu. Nur sein Leben eingesetzt. In der Nachfolge Jesu. Die Bergpredigt nahm er wörtlich. Ein Spinner? Und dann auch noch gut für Namen von Straßen und Schulen?
Ich denke aber auch an die Mutter, deren Namen niemand kennt, den sie auch nie verraten würde. Sie hat ein behindertes Kind. Schwerstbehindert. Tag und Nacht pflegebedürftig. Und das 365 mal im Jahr. Urlaub kennt sie nicht, ihre Lebensvorstellungen hat sie längst aufgegeben – aber sie hat ihr Lachen nicht verloren. Ich sehe sie vor mir. Obwohl sie hart und schwer arbeitet, versteht sie nicht, warum andere von einem Unglück sprechen, das ihr angeblich widerfahren sein soll. In der großen Welt ist es nicht die Rede wert, wenn ein zerbrechlicher Mensch einen neuen Laut von sich gibt, einen Finger festhalten kann oder einfach nur glücklich lächelt - davon aber erzählt die Mutter. Jeder Satz auch eine Liebeserklärung.
Eine Spinnerin? Sie wird nicht heiliggesprochen werden, obwohl sie jeden Tag ein Wunder tut.
Es ist auf einmal alles andere als ausgemacht, dass das, was Jesus gesagt hat, abartig und unverschämt ist. Und offener geht es nicht: mit halbem Herzen kann kein Mensch leben. Dass es Menschen gibt, die so ungeteilt und ganz in der Nachfolge Jesu leben, ist ein Hoffnungsschimmer, ein Glanzlicht - ein Geschenk! Mit Geld nicht zu bezahlen!
Wohin wir schauen
Zu den Erinnerungen an Menschen, die Jesus folgen, gesellt sich – die Erinnerung an ihn, mehr noch: in seinem Leben wurzeln die vielen Geschichten, von denen Menschen zehren. Jesu Wort hören wir. Wir sehen seinen Weg. Wir spüren seine Nähe. Was er von uns erwartet, schenkt er uns auch. Die Liebe, die nicht aufgeteilt, abgerechnet oder kleingeredet werden kann - das Vertrauen, das sich von Realitäten nicht einschüchtern lässt - die Hoffnung, die auch Abgründe zu überbrücken vermag. Schließlich hat Jesus nicht nur die neue Welt mal kurz geprobt, er ist auch nicht zur Probe gestorben, nicht zur Probe auferstanden. Er hat sich ganz gegeben. Er hat sein Leben geopfert. Darum ist sein Wort mit Leben erfüllt: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein."
Die Privatsphäre bekommt ein Loch
Ich weiß: viele Gedanken gehen uns jetzt durch den Kopf. Wir können uns nicht vorstellen, dass Vater und Mutter nicht mehr zu achten wären, Frau und Kinder nicht mehr geliebt werden könnten. Und das in der Nachfolge Jesu! Nein, wir kennen das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, wir wissen auch, dass der Liebe - Gottes Aufmerksamkeit besonders gilt.
Also nur eine Provokation? Aber betrachten wir das Evangelium noch einmal - anders.
Manchmal geht mir auf, wie klein wir die Kreise ziehen, in denen wir unser Leben einrichten. Die kleine Welt wird geradezu überfrachtet mit Glückserwartungen - und Menschen verstecken sich hinter einander, aber auch vor einander. Wo so vieles unübersichtlich und unsicher wird, was doch eigentlich versprochen hat, ewig zu halten, machen Menschen die Türen und Fenster zu. Sprich: ihr Leben, zu, verschlossen. Die Gedanken, sofern sie denn zugelassen werden, schwanken zwischen Selbstzufriedenheit und Angst. Verständlich, wo uns vieles über den Kopf wächst, wir ihn aber immer hinhalten müssen.
Jesu Wort eröffnet einen ganz neuen Weg. Komm raus aus deinem Loch - lass dich entführen. In ein Leben, dass sich einsetzt für andere Menschen - denen eine Stimme gibt, die sie verloren haben - für Recht und Wahrheit eintritt. Jesus "mehr" lieben als Vater und Mutter, Frau und Kinder, Schwester und Bruder - nimmt andere Menschen auf, Menschen, mit denen ich nicht verwandt bin, die aber Gottes Gesicht in mein Leben bringen.
Es ist keine Provokation! Ich finde für mein Leben einen weiteren Raum. Wobei die Betonung auf "weit" liegt - und die vielen kleinen Grenzen, auf die wir uns als Menschen verständigt haben, können überwunden werden. Die Hl. Elisabeth, Dietrich Bonhoeffer - und nicht zuletzt die Mutter, von der ich erzählte: auf ihren Wegen liegt ein Segen, der uns zu gute kommt. Der Mut macht. Der uns jeden Tag Wunder in die Fußspuren legt.
Ich spinne
In der Kneipe werden wir uns am Freitag wieder treffen. Ich will meinen Kumpeln dann erzählen, was ich heute predigte – sie wollten es ja wissen! Ich bin mir ziemlich sicher: es wird auch ein sehr nachdenkliches Gespräch werden. Schließlich haben wir uns schon so oft die Köpfe heiß geredet, wie kalt die Welt ist - und wie unbarmherzig Menschen miteinander umgehen.
Wie hatten sie gesagt? "Du spinnst"! Richtig: den Faden spinne ich weiter!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Manfred Wussow (2006)
Christiane Herholz (2003)
Josef Kampleitner (2001)