Maria - der neue brennende Dornbusch
In der sog. Lauretanischen Litanei, jener Marienlitanei, die auf das 12. Jahrhundert zurückgeht und ihre heutige Form im 16. Jahrhundert erhielt, findet sich unter anderem die Anrufung Mariens als "brennender Dornbusch". Leider ist diese Anrufung in der gekürzten Form der Litanei, welche sich im "Gotteslob" befindet, nicht mehr enthalten. Doch über Jahrhunderte riefen die Gläubigen Maria als "Rubus incombustus" an, als "brennender Dornbusch", oder genauer: als "unverbrennbarer Dornbusch".
Warum ich das am Weihnachtsabend erzähle? Weil der brennende Dornbusch im Alten Testament jener Ort war, an welchem dem Volk Israel der Gottesname "Jahwe" geoffenbart wurde (Ex 3:14). Das heißt so viel wie: "Ich bin, der ich bin" oder "Ich bin der ‚Ich bin da’". Gott ist der schlechthin Seiende. Weil er Gott ist, kann es keine anderen Götter neben ihm geben. Und es kann auch keine Zeit geben, da er nicht ist. Gott ist immer, gestern, heute und morgen. Und weil er sich mit einem Namen offenbarte, hat er sich für die Menschen anrufbar gemacht. Das heißt dann auch: Er ist da für uns Menschen. So erfuhr Mose und mit ihm das Volk Israel Gott am brennenden Dornbusch.
Gott offenbart seinen Namen und mehr als das
Das Evangelium des Weihnachtsabends spricht neuerdings von der Offenbarung eines Gottesnamens. Schon der Prophet Jesaja hatte im 8. Jahrhundert vor Christus vorausgesagt: "Seht die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel - Gott mit uns - geben" (Jes 7:14). Nun ist diese Verheißung Wirklichkeit geworden. Josef steht wie damals Mose vor einem brennenden Dornbusch. Es ist Maria, seine ihm verlobte Frau. Und der Name, unter welchem sich Gott offenbar macht, ist nicht bloß ein Name geblieben. Im "Immanuel" ist Gott in unüberbietbarer Weise wirklich mit uns, weil Gott in ihm einer von uns geworden ist: ein Mensch, nicht mehr nur mit einem Namen, sondern auch mit einem Gesicht, mit Hand und mit Herz, mit einer menschlichen Geschichte und vielem mehr - "in allem uns gleich außer der Sünde" (Viertes Eucharistisches Hochgebet).
Lassen wir uns von unseren Zweifeln heilen
Verweilen wir beim Bild des Dornbusches, weil es uns weitere Seiten von Weihnachten erschließen kann. Der Dornbusch ist ein Symbol für das Leiden des Volkes Israel. Wenn wir Maria als den neuen Dornbusch ehren und wenn wir vor allem den Dornbusch als den Ort einer besonderen Gottesoffenbarung sehen, so heißt das im Bezug auf Weihnachten: Gott will durch seine Menschwerdung an den Leiden der Menschheit teilnehmen und diese Leiden gerade durch seine Teilnahme heilen. Wir können das beispielhaft an Josef erkennen.
Wie viele Zweifel haben ihn, den Gerechten, gequält, weil er nicht wusste, wie ihm geschah, als seine ihm verlobte Frau ohne sein Zutun ein Kind empfangen hatte? Durch die ihm im Traum gegebene Botschaft, dass dieses Kind vom Heiligen Geist ist, fallen alle Zweifel von ihm ab. Der Immanuel, von dem er durch den Engel hört, erneuert seinen Glauben an Gott, aber auch die Treue gegenüber seiner Frau. Josef ist von seinen Zweifeln geheilt. Lassen auch wir uns durch den "Gott mit uns" von unseren Zweifeln heilen: den quälenden Selbstzweifeln, den Zweifeln an der Fürsorge Gottes, den Zweifeln an unseren Mitmenschen, schließlich auch der Angst, dass unsere Gutheit ausgenützt werden könne.
Christus befreit uns aus jedweder Knechtschaft
Im Alten Testament war der brennende Dornbusch der Ausgangspunkt für die großartige Befreiungsgeschichte des Volkes aus der Knechtschaft Ägyptens. Die Dornen des Busches, vor dem Mose steht, stellen den Schmerz der Knechtschaft dar. Doch indem Gott zu Mose aus dem brennenden Dornbusch spricht, wendet sich das Blatt. Um wie viel mehr noch hat sich das Blatt durch den menschgewordenen Gottessohn Jesus Christus gewendet. Wir singen im Stille-Nacht-Lied jedes Jahr auf’s Neue: "Jesus, der Retter ist da!" Ja, Gott ist tatsächlich Mensch geworden, um uns aus jedweder Knechtschaft zu befreien, besonders auch aus der Knechtschaft unserer Schuld. Wer an Jesus glaubt, bei dem hat sich das Blatt seiner Lebensgeschichte bereits gewendet und dem ist Hoffnung geschenkt: Hoffnung, dass unsere Lebensgeschichte in den gütigen Händen Gottes endet, wenn wir ihm nur vertrauen.
Wichtiger als das Finden ist das Gefunden-werden
Wie aber finden wir Jesus als den Retter? - In einer alten rabbinischen Legende wird berichtet, dass Mose den brennenden Dornbusch deswegen entdeckt habe, weil er nach einem verlorenen Schaf gesucht habe. Können wir nicht Jesus gerade dadurch finden, dass wir uns um jene Menschen sorgen, die in unserer Gesellschaft wenig bis gar kein Ansehen haben, die zu den Ausgestoßenen gehören, die kein Dach über ihrem Kopf, aber vielleicht auch über ihrer Seele haben. Der Gottessohn selbst ist in armen Verhältnissen auf die Welt gekommen. Er hat sich auch in seinem späteren Erdenleben immer wieder mit den Armen und Ausgegrenzten solidarisiert. Weihnachten ist nicht zu Unrecht ein Fest der Mildtätigkeit und Güte gegenüber den Armen. Das innere Motiv, warum wir an Weihnachten den Armen gut sind, soll aber eben nicht unser schlechtes Gewissen sein, weil wir manches haben, was andere nicht haben. Der innere Grund ist vielmehr derjenige, dass wir in den Armen und Ausgegrenzten Christus finden wollen.
Freilich, nicht das wir Christus finden, ist das Wichtigste an Weihnachten. Noch wichtiger ist, dass wir von Gott gefunden werden. Gott selbst hat sich auf den Weg gemacht, um uns alle als die verlorenen Schafe seiner Herde zu suchen. Geben wir ihm die Gelegenheit, uns am heutigen Abend und in der heutigen Nacht zu finden und uns seinen rettenden und tröstenden Namen zu sagen: "Immanuel - Gott mit uns"! Und lassen wir ihm uns sein Gesicht zeigen, das Gesicht des Kindes in der Krippe! Lassen wir seine Hand nach uns ausstrecken, die Hand des Jesuskindes! Öffnen wir ihm unser Herz, dass er uns sein eigenes Herz schenken kann, seinen Sohn, der Mensch geworden ist aus Maria, der Jungfrau.