Ausbruch aus der Enge
Der Abschniitt des Lukasevangeliums, der an diesem Sonntag vorgetragen wird, ist uns als Gleichnis vom verlorenen Sohn in Erinnerung. Gemeint ist damit der jüngere von den zwei Söhnen eines Vaters. Dieser Sohn ist offenbar des Lebens im Haus seines Vaters, des geregelten Ablaufs eines wohlgeordneten Haushalts überdrüssig geworden. So mag er vielleicht sehnsüchtig über die ihm untragbar scheinenden Zäune seines Alltags geblickt haben, denn er fühlt sich eingeengt. So kommt ihm der Gedanke, wie schön es wohl in der "großen weiten Welt draußen" sein mag. Dies umso mehr, als er ja finanziell durch das ihm ausbezahlte Erbe gut abgesichert war. Da lässt es sich leben, da gewinnt man leicht Freunde und Freundinnen.
Aber es kommt, wie es kommen muss. Der Sohn verstand es zwar, Geld auszugeben, er merkte aber nicht, dass dieses eines Tages zur Neige gehen werde. Er ist, wie man sagen könnte, regelrecht "abgezockt" worden, und von den früheren Gefährten seiner rauschenden Feste ist keiner mehr da. Er mag sich oft gedacht haben "Freunde in der Not, geh'n hundert auf ein Lot".
Der wartende Vater
Der Empfang des Heimkehrers und - beinahe könnten wir sagen - die Großzügigkeit des Vaters setzen in Erstaunen; es gibt keinen Vorwurf und keinen Tadel für den Heimgekehrten. Der Vater hat wohl jeden Tag Ausschau nach seinem verlorenen Sohn gehalten, ja er läuft ihm sogar entgegen und lässt ein großes Fest feiern. Der Heimgekehrte gesteht zwar seine Schuld: "Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein", aber von angemessener Sühne und Buße ist keine Rede, jedenfalls nicht auf Seiten des Vaters.
Der andere Sohn
Aber diese Großzügigkeit und das anscheinend vorbehaltlose Vergeben finden nicht ungeteilte Zustimmung. Dem älteren der beiden Söhne, der brav daheim geblieben ist, missfällt das Verhalten seines Vaters sehr, und er wird wohl auch Zustimmung bei einigen anderen gefunden haben. Der ältere Sohn fühlt sich zurückgesetzt und er bringt das auch deutlich zum Ausdruck. Er wirft seinem Vater vor, dass es für ihn niemals auch nur eine kleine Festlichkeit gegeben habe, der Vater habe ihm nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit er mit seinen Freunden ein bescheidenes Fest feiern könnte. Die Antwort des Vaters mag den Sohn nicht überzeugt haben. Was der Vater sagt, hat der Sohn velleicht sogar als brüskierend empfunden, und es ist, genau gesehen, jedenfalls befremdend. Wenn der Vater sagt, dass alles, was ihm gehöre, auch seinem Sohn zustehe, dann wird der Sohn wohl gedacht haben, dass er von diesem anscheinend innigen Bezugsverhältnis bisher wenig zu spüren bekommen habe. Auf ein Wort der Anerkennung, eine Geste der Wertschätzung für jahrelang geleistete Arbeit, und mag es auch nur ein Ziegenbock sein, hat der ältere Sohn offensichtlich jahrelang vergebens gewartet.
Diese Reaktion des älteren Sohnes ist durchaus verständlich. Er war vielleicht ein Mann, dem Recht und Ordnung ("Law and order") viel, wenn nicht alles bedeuten, und man mag es ihm durchaus nachempfinden, wenn er das rauschende Fest seines Vaters für unangebracht, zumindest aber für überzogen hält.
Aber vielleicht ist er auch ein Mann, der, wenn überhaupt, jedenfalls nicht so schnell verzeihen kann. Für das Übermaß der Liebe seines Vaters bringt er kein Verständnis auf, ja er verkriecht sich sogar gewissermaßen in das Schneckenhaus seines Grolls. - Lasst mir meinen Zorn, mag er sich gedacht haben, denn ich fühle mich damit im Recht. Dem überschäumenden Wohlwollen seines Vaters steht er eigentlich fassungslos gegenüber. Er vergisst allerdings, dass über aller Gerechtigkeit die Barmherzigkeit stehen muss; Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit. Ob ihm das letztlich eingeleuchtet hat, wissen wir nicht; im Evangelium ist davon keine Rede mehr.
Welcher ist der "verlorene Sohn"?
Der jüngere der beiden Söhne ist heimgekehrt. Der ältere ist zuhause geblieben, distanziert sich aber von der Barmherzigkeit seines Vaters; dieser alles verzeihenden Liebe ist er nicht gewachsen. Ist er vielleicht innerlich bereits seit längerer Zeit schon aus seinem Vaterhaus emigriert? Er ist zwar räumlich aus dem Vaterhaus nicht ausgezogen, hat aber darin keine wirkliche Beheimatung mehr gefunden. Zuhause, aber nicht daheim, so könnte man die Situation des älteren Sohnes umschreiben. Dann wäre aber er, der nicht aus dem Vaterhaus ausgezogen ist, der eigentlich Verlorene. Ist ihm der Sprung über den eigenen Schatten gelungen? Hat er begriffen, dass Gott verzeihende Liebe ist?
Haben wir es vielleicht mit einer Art von Rollentausch zu tun? Der eine Sohn kehrt nach (hoffentlich) ehrlicher Reue in sein Vaterhaus zurück, aber sein Bruder ist nicht (mehr) da. Oder hat er vielleicht am Ende doch begriffen, dass er, will er nicht selbst verlorener Sohn sein, der Umkehr und Buße bedarf?