Schier unendlich viele religiöse Überlieferungen aus allen Religionen wissen von Berufungen zu berichten. Menschen werden hierbei von Gottheiten direkt oder gleichsam durch die Vermittlung von Engeln, Boten oder "Zwischenwesen" in direkter Ansprache, Auditionen oder beispielsweise in Träumen mit speziellen Funktionen oder Aufgaben betraut.
Berufung im Alten Testament
Aus religionsgeschichtlicher oder religionssoziologischer Sicht ist dies auch im Alten Testament nicht anders. Berufungen begegnen uns hier jeweils im Kontext einer Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die Initiative geht stets von Gott aus und das besondere Verhältnis und die Begabungen des Berufenen dienen dazu, die göttliche Macht für das Volk Israel sichtbar werden zu lassen.
Es fällt auf, dass es im Alten Testament jedoch kein eigenes Wort für Berufung gibt, am ehesten entspricht dem Gemeinten noch das Wort "senden". Berufungen werden vielmehr immer in ein Geschehen, in eine Geschichte "verpackt". Einzelpersonen wie Ezechiel, Jeremia, Moses oder Samuel werden für eine kurze oder längere Zeit, mitunter auch ein Leben lang, in den Dienst Gottes berufen und mit einer Aufgabe betraut.
Zumeist laufen diese "In-Dienst-Nahmen" nach einem bestimmten Schema ab, in dem zuerst auf eine vorausgehende Notsituation hingewiesen wird, die Beauftragung erfolgt, der Berufene macht einen Einwand gegen seine Berufung, Gott sagt ihm nochmals seinen Beistand zu und ein Zeichen wird gesetzt. Es handelt sich dabei natürlich nicht um einen historischen Bericht, sondern das literarische Ergebnis einer theologischen Reflexion. Berufungen sieht das Alte Testament nicht als das Ergebnis des Wollens eines Einzelnen, sondern als das Wollen und Wirken Gottes an einem oder durch einen Menschen, der so zum Boten Jahwes wird. Dieser Prozess schließt das Hören auf das Wort Jahwes, das Aushalten im Leiden, die Übereinstimmung von Botschaft und Leben sowie die immer neue Sicht auf den Boten ein.
Berufung im Neuen Testament
Eine klassische Berufungsgeschichte wie im Alten Testament findet sich in Bezug auf Jesus in den Evangelien nicht, sehr wohl gibt es aber verschiedene Textpassagen, die seine besondere Sendungsautorität hervorheben. Wenn wir an die letzten Sonntagsevangelien zurückdenken, so sind sicherlich bei der Taufe der geöffnete Himmel sowie das Herabkommen des Heiligen Geistes in Gestalt einer Taube als solche Zeichen der Bekräftigung der Sendungsautorität zu sehen.
Eindeutig berufen werden im Neuen Testament einzelne Personen wie Paulus oder mehrere Personen - gleichsam im Kollektiv - wie die Apostel. Jesus trifft die zu berufenden Menschen zumeist bei ihrer Berufsausübung an und die Berufung erfolgt "sofort" und durch sein Wort, in dem sich die Vollmacht Gottes widerspiegelt. Hierin zeigt sich die Gottesherrschaft und die Berufung ist eine radikale Bindung an Jesus und seine Nachfolge.
Richtet sich die Berufung im Alten Testament zuerst an eine einzelne Person und wird erst in nachexilischer Zeit auf das ganze Volk Israels hin ausgeweitet, so richtet sich die Berufung durch Jesus prinzipiell an alle Menschen - also auch an Sie und mich.
Berufen zur Freiheit
Aus der Zusage der Berufung zur Gemeinschaft mit Jesus Christus und den "berufenen Heiligen" erwächst für Paulus die Notwendigkeit für ein der Berufung entsprechendes Verhalten. Das Berufensein bedarf daher der Verwirklichung und Bewährung im täglichen Leben - das ist ihm ein wichtiges apostolisches Anliegen!
Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum sich Paulus in der heutigen zweiten Lesung so deutlich gegen die Auswüchse in der Gemeinde von Korinth wendet. Doch sich zurückzulehnen und zu meinen, dass diese Vorgänge vor bald 2000 Jahren für uns nur ein historisches Ereignis ohne praktische Relevanz für heute wären, würde viel zu kurz greifen.
Lassen wir das Gesagte ganz kurz Revue passieren: Berufung ist ein Anruf Gottes, der sich an alle Menschen richtet und eine entsprechende Antwort im Denken und Handeln erfordert. Nein, es ist hier absolut nicht der Ort zum Moralisieren oder zum oberlehrerhaften Erheben des Zeigefingers. Nehmen wir in die nächste Woche aber eine Frage Jesu aus dem heutigen Evangelium und zwei kurze Gedanken mit:
"Was sucht ihr?" – Was suche ich?
Gott beruft alle Menschen. - Was bedeutet das für mich?