Altes Jahr
War es ein schönes, gutes Jahr - das Jahr 2010? Eindeutig werden die Antworten nicht ausfallen, aber bunt, gar widersprüchlich. Das Jahr 2010 verhallt vielstimmig. Dabei aber auch so schweigsam, wie es gekommen ist. Wissen Sie noch, wie es vor einem Jahr war?
Da hofften Menschen, eine Krankheit zu besiegen, stark zu sein, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie gingen wohlgemut in das neue Jahr. Schon im Frühling, als die Natur aufblühte, waren wir zur Beerdigung eingeladen. Wir gingen einen letzten Weg mit. Es ist uns heute, als wäre es gestern. Die Lücke tut immer noch weh.
Da erwarteten zwei junge Menschen Nachwuchs. Er streichelt den Bauch seiner Frau. Das Kleine bewegt sich. Sie kann es kaum noch erwarten. Jetzt schaut das kleine Mädchen schon mit großen Augen in die Welt - ein halbes Jahr. Es ist jetzt nichts mehr wie vorher. Großes Glück!
Da haben Politiker über den Krieg in Afghanistan geredet. Die Einsicht, dass "wir" ihn nicht gewinnen können, zumindest nicht mit den Mitteln, die wir einsetzen, trauen sie den Menschen aber nicht zu. Sie reden zum wievielten Mal um den heißen Brei herum. Noch mehr Geld, noch mehr Leute werden gefordert. Aber es sieht nicht so aus, als ob sie ihren eigenen Betörungen Glauben schenken. Wir nehmen eine Sackgasse wahr, dürfen aber keine Angst zeigen.
Wissen Sie noch, wie es vor einem Jahr war?
Wir könnten heute Abend auch einen Jahresrückblick versuchen. Aber die spektakulärsten Zwischenfälle, Affären und Dummheiten interessieren allenfalls im Unterhaltungsprogramm.
Wir gingen doch alle von Hoffnungen, Erwartungen und Wünschen aus. Dann begannen sich die Tage neu zu sortieren. Manchmal konnte ich richtig mitmischen, manchmal war ich nur Getriebener - manchmal hielt ich die Fäden in der Hand, manchmal lief ich ihnen hilflos nach.
Als Paul Gerhardt 1653 sein Lied zum "neuen Jahr" schrieb, lag der 30jährige Krieg gerade 5 Jahre zurück - die Verwüstungen in den Dörfern und in den Seelen waren nur zu gegenwärtig. Paul Gerhardt, damals Pfarrer in Mittenwalde, lässt die Gemeinde singen:
Nun lasst uns gehn und treten
mit Singen und mit Beten
zum Herrn, der unserm Leben
bis hierher Kraft gegeben.
Wir gehn dahin und wandern
von einem Jahr zum andern,
wir leben und gedeihen
vom alten zu dem neuen,
durch so viel Angst und Plagen,
durch Zittern und durch Zagen,
durch Krieg und große Schrecken,
die alle Welt bedecken.
Denn wie von treuen Müttern
in schweren Ungewittern
die Kindlein hier auf Erden
mit Fleiß bewahret werden:
Also auch und nicht minder
lässt Gott uns, seine Kinder,
wenn Not und Trübsal blitzen,
in seinem Schoße sitzen.
Wie von treuen Müttern
Auffällig: Gott wird mit "treuen Müttern" verglichen. Ein schöneres, treffenderes Bild kann ich mir kaum vorstellen! Es ist von schweren Ungewittern die Rede. Wir sehen Menschen zusammengekauert in einer Stube sitzen. Es ist, als ob die Welt unterginge. Draußen - und drinnen.
Wir erleben das unter uns auch heute noch. Wir wissen, wie das ist, sich "unbehaust" zu fühlen, fremden Gewalten ausgeliefert, hilf- und wehrlos. Wir wissen, wie das ist, wenn die großen Worte ganz klein werden. Wir wissen, wie das ist, wenn uns die Sicherheiten verloren gehen.
Das Bild von den treuen Müttern verbreitet Ruhe und Gelassenheit. Jetzt muss auch nichts mehr gesagt werden. Nichts mehr erklärt werden. Auch nichts mehr versteckt werden. Paul Gerhardt malt eine intime Szene, in der Geborgenheit sichtbar wird. Allein durch die Nähe, durch Vertrautheit, durch Liebe.
"Also auch und nicht minder
lässt Gott uns, seine Kinder,
wenn Not und Trübsal blitzen,
in seinem Schoße sitzen."
Ich muss jetzt auch an das Evangelium denken. In ihm ist vom Wort die Rede, dass die Welt neu schafft, Licht bringt und uns zu Kindern macht. Es ist von Jesus die Rede, der zu den Seinen kommt. Nein, ich möchte nicht, dass er vergeblich kommt, fremd bleibt, nicht erkannt wird. Wir sehen Jesus, hören, was er sagt, erleben, was er tut. Vielleicht hat Paul Gerhardt genau die Worte gefunden, die dem einen Wort, das von Gott kommt, angemessen ist: Wie von treuen Müttern!
Neues Jahr
Heute Abend werden Sektkorken knallen, Feuerwerk entzündet und ganz viele gute Wünsche geäußert - von den vielen Vorsätzen ganz zu schweigen. Ein neues Jahr wird gebührend begrüßt. Mit Vorschusslorbeeren. Mit Kater. Mit Träumen. Dafür kann das neue Jahr nichts. Es ist wie ein unbeschriebenes Blatt.
Aber Gott hat als erster schon etwas hineingeschrieben.
"Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.
In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen."
Ich nehme diesen Mut mit: dass auch 2011 in der Hand Gottes ist, in seiner Hand neu entsteht und meinem, unserem Leben Licht und Wärme schenkt. Warum glaube ich nur, dass sich nichts ändert? Dass alles beim Alten bleibt? Wenn ein Jahr neu beginnt, ist es wie ein Versprechen: Du kannst auch anders sein.
Paul Gerhardt formulierte:
Ach, Hüter unsers Lebens,
fürwahr, es ist vergebens
mit unserm Tun und Machen,
wo nicht dein Augen wachen.
Gelobt sei Deine Treue,
die alle Morgen neue,
Lob sei den starken Händen,
die alles Herzleid wenden!
Sprich Deinen milden Segen
zu allen unsern Wegen,
lass Großen und auch Kleinen
die Gnadensonne scheinen!
Ich weiß: Vieles, was in diesem zu Ende gehenden Jahr nicht erledigt oder bewältigt wurde, wird einfach mitgehen. Der Gedanke, dass der neue Kalender mit lauter Nullen anfangen könnte, kommt mir nicht. Aber ich möchte mit euch allen die Gewissheit teilen, dass wir alle aus seiner - Gottes - Fülle empfangen Gnade um Gnade.
Apropos Fülle: Gnade lässt sich schenken. Sie wächst sogar in leeren Händen.
Geben wir Paul Gerhardt noch einmal das Wort:
"Und endlich, was das meiste:
füll uns mit Deinem Geiste,
der uns hier herrlich ziere
und dort zum Himmel führe.
Das alles wollst du geben,
o meines Lebens Leben,
mir und der Christen Schare
zum selgen neuen Jahre!"