Lesung aus dem Buch der Sprichwörter.
Die Weisheit hat ihr Haus gebaut,
ihre sieben Säulen behauen.
Sie hat ihr Vieh geschlachtet,
ihren Wein gemischt
und schon ihren Tisch gedeckt.
Sie hat ihre Mägde ausgesandt
und lädt ein auf der Höhe der Stadtburg:
Wer unerfahren ist,
kehre hier ein.
Zum Unwissenden sagt sie:
Kommt,
esst von meinem Mahl
und trinkt vom Wein, den ich mischte!
Lasst ab von der Torheit,
dann bleibt ihr am Leben
und geht auf dem Weg der Einsicht!
(Lektionar 2018 ff. © 2024 staeko.net)
Gemäss 1 Kön 5,12 hat König Salomo 3.000 Sprüche niedergeschrieben. Auf diesen Satz geht die Vermutung zurück, das Buch der Sprichwörter stamme zumindest in den ersten Versen und auch noch an weiteren Stellen aus seiner Feder. Es haben sicher aber auch noch etliche andere Autoren mitgemischt. In der jüdischen Tradition wird das Buch König Hiskija zugeschrieben.
Im Buch ist die Weisheit eine weibliche Instanz, die den Menschen begleitet wie eine treue Gefährtin. In der vorliegenden Perikope schlüpft sie in die Rolle der Gastgeberin, die die Menschen zur Erkenntnis einlädt.
Im ganzen Alten Orient schätzte man treffende Sprichwörter. Vor allem für die Unterweisung der Hofbeamten und Schreiber spielten sie eine große Rolle (daher mahnen sie gerne zur Besonnenheit, geben Ratschläge zum Umgang mit den Mächtigen und spiegeln überhaupt eine gewisse "Beamtenmentalität" wieder!). Meist fassen sie aber allgemeinmenschliche Wahrheiten ins Wort, die zu allen Zeiten gültig sind. Das Buch der Sprichwörter enthält ältere Sammlungen und neuere Lehrreden. Anlaß zur Endredaktion des Buches ist die Blüte der Weisheitsliteratur um 200 v. Chr. Aus dieser Zeit stammt auch die Lehrrede, der unsere Lesung entnommen ist.
Die Weisheitsliteratur des AT (Kohelet, Jesus Sirach, Ijob, das Hohelied, einige Psalmen und natürlich das Buch der Weisheit), kreist um die Frage: "Wie kann ich mein Leben so leben, daß es gut ist, daß es wirklich ein Leben im Vollsinn des Wortes ist?". Mit "Weisheit" ist also nicht Bildung oder Philosophie gemeint, sondern ein handfestes Lebenswissen für den Alltag. "Weise" nennt das AT denjenigen, der nach der "Weisung", der Tora, lebt. Wer sich auf die menschenfreundlichen Gebote des menschenfreundlichen Gottes einläßt - so die Überzeugung des AT - macht sich auf den Weg in ein Leben in Fülle. Als abschreckendes Gegenbeispiel wird gern der "Weg der Toren" oder "Frevler", die das Gesetz mißachten, angeführt.
Auch der vorliegende Text ist ein werbender, einladender Text, der mit üppigen Bildern zum Weisheitsweg verführen will. Er malt die göttliche Weisheit als wohlhabende, großzügige Gastgeberin, die die Unerfahrenen, die eigentlich ihrer unwürdig wären, zu sich einlädt und bewirtet. Daß die göttliche Weisheit als Person auftritt, kommt öfter vor - in Weish 8 spricht der Verfasser von ihr geradezu schwärmerisch als von seiner Geliebten und Lebensgefährtin. Das Bild vom Festmahl möchte seine Hörerinnen und Hörer davon überzeugen: Wer den Weg mit Gott, den Weg der Weisheit wählt, muß nicht darben, im Gegenteil! Er gewinnt eine neue Lebensqualität und tritt in einen neuen, prächtigen Lebensraum ein.
Das AT wählt hier also einmal ein weibliches Bild dafür, wie Gott im Leben der Menschen erfahren werden kann. Spannend ist, daß Jesus offensichtlich gerade dieses weibliche Gottesbild zum Vorbild nimmt, wenn er Zöllner zu sich zum Gastmahl einlädt, weil "nicht die Gesunden den Arzt brauchen, sondern die Kranken" (Mk 2,13-17 par)!
Weisheitsliteratur
Das Buch der Sprichwörter ist eine Sammlung von Lehrreden, Gedichten und Sprüchen, deren Zusammenstellung zwischen 550-200 v. Chr. endverfaßt wurde. Schon zur Zeit König Salomos (um 1000 v. Chr.) waren Sprüche, Rätsel und Lehrgedichte im Alten Orient sehr beliebt. Eine zweite Blüte erlebte die Weisheitsliteratur in der Zeit nach dem Babylonischen Exil.
Für das israelitische Weisheitsverständnis ist die religiöse Dimension charakteristisch. Die Wendung "Die Furcht vor Jahwe ist der Anfang der Weisheit" (Spr 1,7) erklärt die Frömmigkeit zur Voraussetzung der Weisheit und spricht dem Glauben an Gott eine wichtige Funktion in der menschlichen Erkenntnis zu. Da bei geht es den Israeliten sicher nicht um ein naives Naturverständnis, sondern darum, deutlich zu machen, daß der Mensch erst im Wissen um Gott und im Wissen um sich selbst in das richtige Verhältnis zu den Gegenständen seiner Erkenntnis kommt.
Die Weisheit als Person
Die Weisheit ist für die Lehrer Israels aber keine abstrakte Idee dessen, was zu tun oder zu lassen ist, sondern sie tritt als Person auf, die selbständig redet und handelt. Sie begegnet den aufmerksamen Menschen dort, wo man das Leben der Stadt beobachten kann: auf den Straßen, den Plätzen, am Stadttor. Die Weisheit lehrt ihre Schüler, sie bringt denjenigen, die sich an sie halten, Glück und langes Leben. Diejenigen, die sich nicht an ihre Lehren halten, geraten in Unglück, im schlimmsten Fall kann die Nichtbeachtung sogar die Todesstrafe nach sich ziehen, die z. B. auf Ehebruch steht (Spr 9,6). Darum lädt sie die Unerfahrenen ein, aus der Tradition und den Erfahrungen der Lehrer Konsequenzen für das eigene Leben zu ziehen, in das "Haus der Weisheit einzutreten".
Die ethische Erziehung der israelischen Weisheitslehrer ist also nicht diktatorisch autoritär geprägt, sondern appelliert an die Einsicht des Schülers. Gemeinsam mit den Schülern sind die Lehrer auf dem Weg der Weisheit unterwegs.
Martin Stewen (2012)
Antonia Keßelring (2000)
Regina Wagner (1997)