Die Begebenheit, die wir eben gehört haben, bringt menschlichen Erfahrungen zur Sprache - Erfahrungen von anfänglichem Vertrauen, von aufkommender Angst und von Aufgefangenwerden.
Eine Geschichte des Glaubens
Gewiss darf das, was sich da zwischen Jesus und Petrus abspielt, nicht rein tiefenpsychologisch gedeutet werden. Dennoch sollten wir nicht so sehr danach fragen, ob das in historischer Hinsicht nun genau so war. Die meisten Bibelwissenschaftler sind der Meinung, dass diese Geschichte aufgeschrieben wurde für die Christen in den ersten Gemeinden. In ihnen sollte der Glaube geweckt werden, dass auch in Zeiten der Verfolgung, in äußerer und innerer Anfechtung, Jesus sie nicht im Stich lässt.
Die bei Matthäus überlieferte erzählt von Erfahrungen, in Bildern des Glaubens, welche die Jünger auf eine ihnen unglaublich erscheinende Weise mit Jesus gemacht haben: Da ist einer, der etwas zuwege bringt, was Menschen aus eigener Kraft nicht vermögen. Am Schluss dieser Erzählung heißt es: "Die Jünger im Boot aber fielen vor ihm nieder und sagten: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn." Sie erkannten: In Jesus ist Gott gegenwärtig und wirksam. Diese Geschichte wurde als eine Glaubensgeschichte weitererzählt, damit auch wir, wie die Jünger damals, Vertrauen gewinnen in einen Gott, der uns aus Angst befreien kann, - gerade dann, wenn wir es nicht mehr für möglich halten.
Grenzerfahrungen
"Das Boot war schon viele Stadien vom Land entfernt und wurde von den Wellen hin und her geworfen; denn sie hatten Gegenwind." Der See von Galiläa, er wird auch das Galiläische Meer genannt, kennt gewaltige Stürme. Wer vom gesicherten Land abfährt, setzt sich Gefahren aus. Ich habe das einmal erlebt auf einer Bootsfahrt von Capri nach Ischia. Es war ein kleines Boot, das bei ruhiger See losfuhr und dann plötzlich in einen gewaltigen Sturm geriet. Mir wurde angst und bange. Nur der Erfahrung des Steuermanns war es zu verdanken, dass das Boot keinen Schiffbruch erlitt. Auch die Jünger werden alles getan haben, was in ihren Kräften stand, um nicht unterzugehen. Doch dann stießen sie an ihre Grenzen. Ein Bild für das, was auch uns widerfahren kann in bestimmten Lebenssituationen: Wir erleben Enttäuschungen, wissen manchmal nicht mehr weiter, sehen kein Land mehr, bekommen Gegenwind. Mehr oder weniger machen wir alle solche Grenzerfahrungen.
Die Angst sitzt im Boot. Sie hält die Jünger umklammert, so dass sie gar nicht wahrzunehmen vermögen, woher ihnen Rettung kommen könnte. Die sich ihnen nahende Gestalt erfüllt sie mit Schrecken. Sie schreien vor Angst. Erst als Jesus mit ihnen zu reden beginnt, erkennen sie ihn. Er sagt zu ihnen:
Habt Vertrauen!
"Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht! Darauf erwidert ihm Petrus: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme." Und Jesus sagt: "Komm!" Vielleicht haben auch wir die Erfahrung machen dürfen: Wir können zu einem Menschen ein solches Vertrauen gewinnen, dass wir, bildlich gesprochen, ohne uns abzusichern, über das Wasser zu ihm gehen. "Komm!" sagt einer. Und ich gehe das Wagnis der Liebe ein.
Auf Gott bezogen könnte das heißen: Mir kann alle Angst vor einem Furcht erregenden Gott genommen werden. Ich vermag die Kluft der Anfechtung und des Zweifels an Gottes Liebe zu überwinden. Nach meiner Erfahrung ist die Gottesangst eine der schlimmsten Ängste, die einen Menschen anfallen können. In der Begegnung mit Jesus, der unter uns erschienenen Menschenfreundlichkeit Gottes, kann mir diese Angst genommen werden. Ich kann davon geheilt werden. "Da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu." Doch der Sturm hatte sich noch nicht gelegt, er bekam es wieder mit der Angst zu tun und begann unterzugehen. "Er schreit: Herr, rette mich!" Jesus streckt die Hand nach ihm aus und ergreift ihn. Er sagt: "Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?" Dies könnte sich wie ein Vorwurf anhören in einer Situation, in der nun wirklich fürchterliche Angst aufkommen kann. Jesus will damit sagen: Zweifle nicht daran, dass es für Gott größere Möglichkeiten gibt, als du dir als kleiner Mensch auszudenken vermagst.
Warum habt ihr solche Angst?
Im Markusevangelium (Mk 4, 35-41) wird von ähnlichen Erfahrungen erzählt. "Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, so dass es sich mit Wasser zu füllen begann. Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Meister kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen. Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein. Er sagte zu ihnen. Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?" Will Jesus damit sagen, dass wir keinerlei Angst haben dürfen? Jesus selber hat Angst durchlitten. Todesangst hat ihn am Ölberg befallen, Angst vor seinem bevorstehenden, gewaltsamen Tod.
Wir alle haben unsere Ängste. Die Wörter "Angst" und "Enge" haben eine gemeinsame sprachliche Wurzel im Indogermanischen. Angst beengt das Herz des Menschen, schnürt es ein. In der Angina pectoris wird die Brust wie in einen Schraubstock eingeklemmt. Mag sein, dass Sie solche körperlich bedingten Angstgefühle oder seelischen Ängste - manchmal hängen sie miteinander zusammen - aus eigener Erfahrung nicht kennen. Doch es gibt in jedem Menschen, auch in den Tieren, so etwas wie eine kreatürliche Angst. Angefangen vom ersten Schrei, wo sich das Kind, losgerissen von der Mutter, in eine bedrohliche Welt geworfen fühlt, bis hin zu den Ängsten sterbender Menschen. Angst gehört zur Grundbefindlichkeit unseres Menschseins. Angst zu haben, ist darum nichts Verwerfliches. Wir sollten unsere Ängste nicht verdrängen. Wir dürfen sie zulassen. Ängste, die wir nicht wahrhaben wollen, werden uns dann doch irgendwie wieder einholen oder uns hinterrücks anfallen. Unseren Angstgefühlen sollten wir nicht ausweichen, und wir könnten uns fragen, woher sie rühren. Die Jünger im Boot hatten Angst. Sie meinten, der heftige Sturm würde sie in die Tiefe reißen. Es war eine elementare Angst, die sie befallen hatte. Die Angst, von den tosenden Wogen verschlungen zu werden, zugrunde zu gehen. Wer konnte sie aus dem Wirbelsturm erretten?
Jesus schlief.
Jesus lag hinten im Boot und schlief. Scheinbar kümmerte es ihn nicht, dass sie untergingen. Das Vertrauen, dass allein schon seine Gegenwart sie vor dem Untergang retten konnte, war ihnen verloren gegangen. Sie glaubten, er hätte sie im Stich gelassen. Vielleicht haben Sie das auch gelegentlich erfahren; bei sich selbst oder bei andern. Dass nämlich Nöte und Ängste eines Menschen sich dann besonders schlimm auswirken, wenn ihm niemand zur Seite steht.
Oder wenn er kein Vertrauen mehr hat in andere; vielleicht sogar in diejenigen, denen er bisher vertraut hatte. Das kann es auch in einer Gemeinschaft geben, in der Freundschaft, in einer Ehe. Verloren gegangenes Vertrauen kann tödlich sein, in der Tiefe des Herzens tödlich. Tödlicher als der leibliche Tod eines geliebten Menschen. Auf diese Weise kann auch der Glaube an Gott sterben. Gott scheint sich nicht um das Leid der Menschen zu kümmern. Er schläft. Wie Jesus im Boot. Immer wieder haben sich in den Psalmen Menschen inständig an Gott gewandt, er solle sie doch hören in ihren Nöten. Jesus sagt zu den vom Tode bedrohten Jüngern: "Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?”.
Wir könnten diese Aufforderung, gegen alle Hoffnung zu glauben, ein wenig besser verstehen, wenn wir den Ton auf "solche” legen. Warum habt ihr solche Angst? Angst haben die Freunde Jesu auch später gehabt - selbst wenn sie diesmal gerettet wurden. Es ist die Frage an sie damals und auch an uns heute, an mich, wie tief diese Angst sitzt. Sitzt die Angst im Boot, in meinem Lebensboot wie sein Steuermann? Steuern übersteigerte Ängste, übertriebene Sorgen mein Leben? Hat die Angst, die in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu meinem Leben gehört, mich ganz in ihren Bann geschlagen? Frisst sie an meinem Grundvertrauen? An meinem Vertrauen in Gottes Fügungen, auch wenn sie für mich undurchsichtig sind? Dann, wenn ich aus meinen Ängsten und Bedrängnissen, aus einer Krankheit nicht so befreit werde, wie ich es mir vorgestellt hatte?
Das unergründliche Geheimnis Gottes.
Nachdem die Jünger aus dem Sturm gerettet wurden, heißt es dann: "Da ergriff sie große Furcht.” Dies mag uns seltsam vorkommen, wo doch alles gut ausgegangen war. Diese Art von Furcht kann als Ehr-Furcht gedeutet werden. Wenn wir ehrfürchtig staunen über das unergründliche Geheimnis Gottes, über sein unerforschliches Walten in der Geschichte der Menschheit, auch in unserem persönlichen Leben, dann könnten wir etwas angstfreier leben. "Ich bin überzeugt”, schreibt Paulus an die Christen von Rom, "dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. . . Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutige Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. . . Wir sind gerettet, jedoch in der Hoffnung. Hoffnung aber, die man erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Wie kann man auf etwas hoffen, was man sieht? Hoffen wir aber auf etwas, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld” (Röm 8, 18.22.24f.).
Ängste werden uns bleiben. Auch Anfechtungen in unserem Vertrauen in Gottes Liebe. Doch mitten in Angst und Zweifel können wir auch manchmal erfahren, meist erst im Nachhinein: Gott war da. Vielleicht dürfen wir sogar dankbar sein, dass uns Nöte und Ängste nicht erspart geblieben sind, weil wir gerade darin Gottes schützende Hand umso mehr erfahren durften. Jesus sagt auch mir: Verliere in einer dir ausweglos erscheinenden Situation nicht das Vertrauen in Gott. Er weiß einen Ausweg weiß, wo du nicht mehr ein noch aus weißt. Er fängt dich auf, wo du unterzugehen drohst.
Norbert Riebartsch (2002)
Hans Hütter (1996)