Was tun, wenn alles getan ist?
Die Heilige Schrift ist für viele Menschen das Buch des Lebens. Sie gibt uns Kunde von Heilsgeschichten, die Gott mit den Lebensgeschichten von einzelnen Menschen und seinem Volk geschrieben hat.
Mit der heutigen Lesung entsteht jedoch ein anderer Eindruck: Im Weinbergslied hören wir ein grosses Seufzen, das beinahe schon zur Klage wird: "Was könnte ich noch für meinen Weinberg tun, was ich nicht für ihn tat?" Der Weinbergbesitzer, von dem der Prophet Jesaja spricht und der diese Worte sagt, hat es längst aufgegeben, auf eine Antwort zu warten. Diesem grossen Seufzer schließt er aus tiefer Enttäuschung gleich an, was er mit dem, was ihm so lieb ist, was er mit Freude gepflanzt hat, worin er soviel Mühe investiert hat, vorhat: Der Weinbergbesitzer wendet sich nicht nur von ihm ab, sondern entzieht ihm Schutz und Hilfe, sowie jegliche Fürsorge und notwendige Pflege. "Man soll seine Reben nicht schneiden und soll ihn nicht hacken; Dornen und Disteln werden dort wuchern." Jeder Weinbauer weiss: wenn ein Weinstock nicht mehr gepflegt wird, verwildert er, kann keine gute Frucht bringen. Der Weinbergbesitzer hat seinen Weinberg aufgegeben. Er hackt ihn zwar nicht um, aber er überlässt ihn seinem Schicksal. Der Besitzer erhoffte sich viel, doch das Gegenteil trat ein.
Der Weinberg im prophetischen Weinbergslied steht für das Haus Israel. Der Weinbergbesitzer ist JHWH. Sein, Gottes Weinberg, ist das von ihm auserwählte Volk, das nicht einmal minderwertige Frucht bringt, sondern auch noch völlig unbrauchbare, also weit hinter den Wünschen seines Gottes zurückgeblieben ist.
Was sind die Früchte, die JHWH von seinem Volk erwartete? Er setzte die Hoffnung in sein Volk, dass Recht gesprochen wird, doch im Gegenteil: das Recht wird gebrochen. "Er hoffte auf Gerechtigkeit: doch siehe da: der Rechtlose schreit."
An dieser Stelle scheint sich das Blatt zu wenden: der sich als rechtlos erwiesen hat, bleibt nicht teilnahmslos, sondern erhebt seine Stimme, schreit. Kann das ein Anzeichen eines neuen Anfangs sein, wenn der Rechtlose beginnt, aufzubegehren, nicht mehr alles mit sich machen zu lassen und Unrecht zu benennen? Ist das der Beginn der Umkehr, die Voraussetzung dafür, dass nicht heute, auch nicht morgen, aber irgendwann doch noch der Weinstock gute Frucht tragen kann? "Er hoffte auf Gerechtigkeit, doch siehe da: der Rechtlose schreit."
Grenzen des Machbaren
Wir haben alles Menschenmögliche getan: "Was konnte ich noch für ihn tun, was ich nicht für ihn tat?" Es gibt mitunter Situationen im Leben, in denen wir uns das - verbunden mit Schmerz und Trauer - eingestehen müssen. Wenn Eltern in der Erziehung ihres Kindes an die Grenzen kommen. Wenn Jugendliche ihre Lehrstelle hinschmeissen oder in Drogenkonsum abgleiten. Wenn Partner in ihrer Beziehung am Ende sind; beispielsweise. - Hoffnungen erfüllen sich nicht. Was kann ich noch tun?
Auf diese Frage gibt es eine rhetorische Antwort, die nicht zufrieden stellt: nichts.
Vielleicht müssten wir vielmehr danach fragen, ob wir überhaupt noch etwas tun hätten sollen? Liegt es denn wirklich an mir allein, ob mein Tun jene Frucht bringt, die ich mir erwünsche?
Wovon das Weinberglied singt, ist die Tatsache: selbst bei aller Fürsorge kann ich nichts erzwingen. Auch Gott nicht. Der andere, der Mensch, Gottes Volk braucht seine Freiheit. Und diese Freiheit riskiert viel und fordert einen hohen Preis. Selbst Enttäuschung schließt sie nicht aus.
Mit diesem Eingeständnis muss ich zwar auf eigene Erfolgsrezepte verzichten, erhoffen aber kann ich viel. Auch Gott. Auch Recht und Gerechtigkeit. Auch dann, wenn ich nicht weiss, was und vor allem wie meine Hoffnung sich erfüllen können wird.
Gute Ernte ist ein Geschenk
In diesen Wochen wird in den Weinbaugebieten die Ernte eingefahren. Prognosen werden abgegeben, inwieweit die Winzer mit einem guten Jahrgang rechnen und die Konsumenten sich auf einen guten Schluck Wein freuen können. In unseren Kirchen feiern wir Erntedank. Die Menschen bringen die Früchte ihrer Arbeit vor den Altar.
Der Prophet Jesaja zeigt uns, wie sehr der Weinbergbesitzer um seinen Weinberg Sorge trägt, wie sehr Gott sein Volk liebt und auf gute Frucht hofft.
Der Prophet gibt uns heute aber auch ein Bild von einem erfolglosen, enttäuschten Gott. Gerade darum liegt es nahe, auch ihm auch unsere Enttäuschung und Ohnmacht hinzuhalten, anzuvertrauen, als Gabe zu bringen. Auch wenn uns viel daran liegt, dass jene Menschen, um die wir uns kümmern, die uns anvertraut sind, "gut herauskommen" und gute Frucht bringen, liegt nicht alles allein an uns. Vielleicht finden wir darin selbst Entlastung. Vielleicht können wir dann eine Wende, die im Kleinen und Unscheinbaren beginnt, erfahren. Der andere, der Mensch, das Volk Gottes braucht und hat die Freiheit, eigene Wege zu gehen. Auch wenn es nicht einfach ist, dies zuzulassen, bleibt beim Seufzen, beim Klagen die leise Hoffnung auf gute Ernte.