Unvorstellbar!
„Da habe ich gemeint, es sei alles in Butter. Ich habe mich gefreut, eine gute Partnerin fürs Leben gefunden zu haben. Monat für Monat hat sich das immer deutlicher bestätigt. Ich fühlte mich glücklich. Mein Leben ist reich geworden an guten Erfahrungen. Das hat mich mächtig aufgebaut. Das gab mir Schwung für meine künftigen Unternehmungen. - Und plötzlich dieser Schock! Wie aus allen Wolken gefallen verstehe ich die Welt nicht mehr. Ich sehe mich hintergangen. Wie konnte ich nur so ahnungslos sein! War ich zu naiv? Ich fühle mich ausgebootet. Bin ich nicht gut genug? Was wird aus dem, was ich für das Leben zu zweit aufgebaut habe?“
So oder ähnlich wird wohl dem hl. Josef zu Mute gewesen sein. In dieser düsteren und chaotischen Zeit gehen ihm wirre Gedanken durch den Kopf: Ein uneheliches Kind ist unterwegs. Das allgemeine Gesetz ist in diesem Fall gnadenlos. Steinigung! Sobald ich meiner Wut Luft mache und damit an die Öffentlichkeit trete, bin ich das Problem schnell los.
Mehr als Recht und Gesetz
Doch hier kommt die Größe des hl. Josef zum Vorschein. Josef lässt sich nicht von Enttäuschung und Wut bestimmen. Er versteckt sich auch nicht hinter dem Buchstaben des Gesetzes. Er handelt nicht kurzschlüssig und aus verletztem Ehrgeiz. Er möchte nicht noch mehr Porzellan zerschlagen. Josef bringt es fertig, die peinliche Angelegenheit für sich zu behalten. Wie ein Schutzschild schirmt er dieses Geschehen vor bösen Zungen und feindlichen Angriffen ab.
Weil Josef mehr war als ein Mann des Gesetzes, ging er dieses Problem nicht nur mit dem Verstand an. Josef geht weit über das Gesetz hinaus. Die Bibel spricht von einem ehrenwerten und grundehrlichen Mann, der seine Sache recht macht. Ein Mann, der richtig, ja vorbildlich handelt.
Weihnachten wurde für Josef keine leichte Sache. Seiner Verlobten gegenüber suchte er eine rücksichtsvolle Lösung, eine Lösung, die nicht Leben aus der Welt schafft, sondern Leben zur Welt bringt. Josef ist mit zu verdanken, dass Gottes Sohn zur Welt kommen konnte.
Machen wir nicht selber ähnliche Erfahrungen? - Manches Gute möchte auch heute zur Welt kommen, aber die Angst vor liebloser Kritik, vor Ablehnung und vorschnellem Urteil erstickt anfängliche Ideen und spontane Initiativen.
Auswegweisende Träume
Eine zweite Spur hin zu Weihnachten entdecke ich im heutigen Evangelium: Da erscheint dem Josef ein Engel im Traum und hilft ihm, seine Zweifel zu überwinden.
Von Träumen berichtet die Bibel an 60 Stellen. Sehr bekannt ist der Traum Jakobs von der Himmelsleiter. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Jakob ist auf der Flucht und hat Angst vor seinem Bruder Esau. Aber der Traum zeigt ihm, dass Gott bei ihm ist und ihn segnet. So hat der Traum eine positive, eine therapeutische Wirkung auf Jakob. Eine wichtige Rolle spielen die Träume in der Erzählung vom ägyptischen Joseph (Gen 40 ff). Zuerst träumt Joseph selbst, dann deutet er die Träume des Pharao. (Joseph träumt, dass die Garben sich vor ihm beugen und dass Sonne, Mond und Sterne sich vor ihm verneigen. Im Traum sieht er, der jüngste Sohn, der bisher nichts galt, wer er eigentlich ist. Der Traum zeigt ihm seine Berufung und seine Größe.) Zu Samuel spricht Gott mitten in der Nacht. Er erwacht dreimal, weil Gott ihn ruft. Dreimal versteht er die Stimme nicht. Das letzte Mal antwortet er: „Rede, Herr, dein Diener hört.“
Diese Stelle (Sam 3,9) wurde für einen amerikanischen Geistlichen zum Schlüsselerlebnis. Er litt an Schlafstörungen und suchte deshalb einen Therapeuten auf, um davon befreit zu werden. Doch der fragte ihn, ob er schon einmal überlegt habe, dass Gott mit ihm reden möchte, wenn er nicht schlafen kann. Und er erinnerte an Samuel. Wir sollten wie Samuel sagen: „Rede, Herr, dein Diener hört.“ Der Geistliche befolgte diesen Rat. Und seitdem sind ihm die Stunden, da er nicht schlafen kann, die wichtigsten. Die besten Gedanken für seine Bücher kommen ihm in der Nacht.
In der Bibel stehen die Träume nicht nur im Dienst des Menschen, sondern sind auch ein Sprachrohr Gottes.
Chancen entdecken
Das erlebten gottsuchende Menschen nicht nur damals, diese Chance besteht auch heute. Träume sind mehr als gefühlsfreie und gedankenlose Reaktionen des Stammhirns. Träume haben mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen zu tun und spiegeln unsere Sehnsüchte. Wenn wir im Licht des Tages unsre Probleme nicht lösen können, geschieht es nicht selten, dass uns in der Nacht Träume kommen.
Selbst wenn von Angstträumen die Rede ist, brauchen wir vor Träumen keine Angst zu haben. Träume stehen immer im Dienst der Gesundheit und wollen helfen, Probleme zu lösen und Chancen zu entdecken. Träume steigen aus der Tiefe und Mitte der Person. Sie sind näher an unserem Erleben als viele Gedanken und vor allem als der Trubel von außen. Wir tragen mehr zu unserer gesunden Entwicklung bei und bringen uns besser auf die Spur von weihnachtlichen Erfahrungen, wenn wir die Aufmerksamkeit nach innen pflegen. Der Traum ist also eine Hilfe, mit der Realität richtig umzugehen. Er macht weise, lenkt den Blick über die Tagesereignisse hinaus und lässt die Zukunft besser bewältigen.
"Fürchte dich nicht!"
„Fürchte dich nicht!" sagen die Engel des Alten Testamentes immer dann, wenn es sich tatsächlich um eine „fürchterliche" Situation handelt. Fast mit den gleichen Worten hört Josef im Traum: „Fürchte dich nicht, deine Frau Maria zu dir zu nehmen, denn das Kind, das sie im Schoß trägt, stammt vom Heiligen Geist (Mt 1,20).“ Und Joseph gehorcht. Er nimmt Maria zu sich. Der Traum ist für ihn nicht ein unverbindliches Wissen, sondern der Traum verpflichtet ihn zum Handeln.
Aber das ist nicht das „Happy‑end". Wiederum im Traum sagt der Engel: „Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, flieh nach Ägypten und bleibe dort, bis ich es dir sage! Denn Herodes fahndet nach dem Kind, um es zu töten!" Ohne Wenn und Aber steht Josef auf und flieht mit seiner Familie, um das Kind vor dem drohenden Tod zu bewahren. Josef begegnet uns als ein Mann, der seine Pläne von Gott durchkreuzen lässt, als ein Mann, der vom Schlafe aufsteht und handelt.
Gott kommt auf holprigen Wegen, mittellos und ungesichert. Er ist angewiesen, dass ihn barmherzige und beherzte Menschen wie Joseph aufnehmen. Selbst wenn er in einer Viehhöhle ankommen muss und bald fliehen muss, will er zu uns Menschen kommen. Damals wie heute.
Ich kann den Gedanken nicht abschütteln: Will uns Gott heute als Flüchtling begegnen? Was sagt uns Gott heute in unseren Albträumen? Gilt das "Fürchte dich nicht!" des Engels auch uns?
Weihnachten hat mit der Integration der Flüchtlinge vielleicht mehr zu tun als mit Geschenken und stimmungsvollen Weihnachtslieder in Konsumtempeln.