Jesus heilt einen Taubstummen. Gegenwärtige Ereignisse machen uns sprachlos oder überfordern uns, sodass wir unsere Ohren verschließen… Die Heilung, die Jesus mit dem Wort Éphata bewirkt, erinnert an die Verheißungen des Jesaja und richtet auch uns auf in der Gewissheit, dass Gott da ist.
Sprachlos
Er hörte nichts. Und wenn er etwas sagen wollte, konnte er nur stammeln. Laute, die aus seiner Kehle zu kommen schienen. Dabei wollte er so viel sagen! Dabei hatte er so viel zu sagen! Kopf und Herz waren voll. - Sie möchten gerne wissen, von wem ich gerade erzähle? Entschuldigen Sie, ich kenne nicht einmal seinen Namen. Mein Freund Markus erzählt von ihm. Die Geschichte eines Taubstummen. Eines Menschen, dem die Welt still geworden ist. Vielleicht auch von Anfang an still war.
Am Schluss ist ein großes Staunen in der Welt. Laut und vernehmlich. Kaum zu überhören. So viele Stimmen! In einem Satz, komprimiert:
„Er - Jesus - hat alles gut gemacht;
er macht, dass die Tauben hören
und die Stummen sprechen.“
Genau genommen, es ist ein Zitat. Ein geprägtes Wort mit Geschichte und Flair. Markus hat es eingesetzt, wenn auch ein wenig gekürzt, um das Wichtige kenntlich zu machen. Die Formulierung ist von keinem Geringeren als vom Propheten Jesaja:
„Sagt den Verzagten:
Habt Mut, fürchtet euch nicht!
Seht, hier ist euer Gott!
Dann werden die Augen der Blinden geöffnet,
auch die Ohren der Tauben sind wieder offen.
Dann springt der Lahme wie ein Hirsch,
die Zunge des Stummen jauchzt auf.“
(Jes.35,4-6).
Sprachlos sind auch heute viele Menschen. Auch, wenn sie ganz viel sagen, ständig reden, nicht einmal mehr zuhören können. Wenn Menschen die Welt nicht mehr verstehen, wenn ihnen ihr Leben fremd wird, wenn ihnen Gott verschwunden ist, ziehen auch die Worte aus.
Hören und Verstehen
Manchmal fehlen mir die Worte, beredt wie ich bin. Im Regal stehen Bücher, dicht gedrängt. Sie enthalten die Weisheit von Jahrhunderten. Und das Wissen von heute. Aber das Unheil, das Menschen trifft, macht mich sprachlos. Auch das Unheil, das die Erde verletzt. Besonders das Unheil, das Menschen anrichten. Ich spüre das. Jedes Wort, das ich sage, hört sich schal und verbraucht an. Eigentlich müsste ich schweigen, aber …
Ich bin in einem kleinen Ort. Idyllisch gelegen. Vor ein paar Wochen hat hier ein kleines Flüsschen gewütet. Rechts und links – in den Erdgeschossen stehen die Fenster offen, die Zimmer leergeräumt, Bauschutt auf den Gehwegen. Dann treffe ich die Menschen, die ich besuchen wollte …
Ich sehe die Bilder aus Afghanistan. Ich bin ganz kleinlaut. Am Hindukusch wollten wir unsere Sicherheit verteidigen. Jetzt lassen wir viele Menschen alleine zurück, die einmal große Hoffnungen auf uns gesetzt haben. Quasi über Nacht ist alles zusammengebrochen. Auch unsere (westlichen) Allmachtsphantasien. Jetzt sind wir in eine Schuld verstrickt, für die es kaum Worte gibt. Was werden wir den Flüchtlingen sagen? Dass sie nicht willkommen sind?
Die Welt ist voller Worte. Die Medien - die sozialen sowieso - gehen in Worten unter. Sie schwirren unsichtbar durch die Luft. Eigentlich müsste ich den Kopf einziehen, um den Wrackteilen zu entgehen. Aber ich bin abgestumpft. Digital haben sich Worte noch schneller vervielfältigt und verflüchtigt. Virtuell wabern Hass und Häme. Viele Worte haben alles verloren, was sie einmal hatten: Vertraulichkeit, Nähe und Verstehen. Jetzt dürfen die Worte einen Zweck erfüllen. Viele Menschen werden von ihnen nicht mehr verzaubert. Eingesperrt werden Worte wie Wahrheit und Gerechtigkeit. Dass Worte leiden an der Welt, dass sie weinen – wir hören es nicht.
Ich höre, verstehe aber nicht.
Eigentlich höre ich nicht einmal mehr hin.
Eigentlich sind meine Ohren voll.
Ich rede, zerfleddere aber die Worte
Eigentlich habe ich nichts gesagt.
Eigentlich habe ich nichts zu sagen.
Jenseits vom Jordan
Da schenkt uns die Geschichte, die Markus uns erzählt, jenseits vom Jordan, ein offenes Ohr. Wir hören, wir träumen von dem Wunder, von dem Wunder, hören zu können, dem Wunder, reden zu können. So, dass die Welt anders ist, noch einmal anders werden kann.
Die Geschichte spielt im Gebiet der Zehnstädte, griechisch Dekapolis, östlich vom Jordan. Die Gegend reicht von Damaskus bis nach Amman, heute Syrien und Jordanien. Markus findet, dass die Information wichtig ist. Jenseits des Jordan … das ist Heidenland, Ausland, vielleicht auch Niemandsland. Gott könne man da nicht finden, sagen die frommen Leute. Weil Gott da nicht sei. Weil er da nie und nimmer sein könne! Hier sei die Sünde zu Hause.
Was hat Jesus da zu suchen?
Jesus überschreitet die Grenzen. Gott kennt doch keine Grenzen. Schon gar keine Grenzen für seine Wunder. Wo er ist, geschehen Wunder!
„Dann werden die Augen der Blinden aufgetan
und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch,
und die Zunge des Stummen wird frohlocken.“
Eine aufgelegte Hand
Wir sehen die Menschen, die den fremden Taubstummen zu Jesus bringen. Auch ihre Namen kennen wir nicht, nicht ihre Erwartungen, nicht ihre Hoffnungen. Jesus solle ihm seine Hand auflegen. Mehr nicht. Was kann aber eine Hand schon ausrichten? Wenn die Ohren nicht hören, die Zunge gefesselt ist? Doch! Die Hand kann segnen. Sie kann einen Menschen behüten. Sie kann Nähe schenken. Alles, was jetzt geschieht, ist von einer intimen Vertrautheit gekennzeichnet. Speichel eingeschlossen. Jesus holt diesen Menschen aus der Menge heraus und wendet sich ihm zu. Die beiden sind ganz allein, so, als gäbe es die anderen nicht. Noch mehr Nähe, noch mehr Vertrauen geht nicht. Bevor auch nur ein Wort gesagt wird!
Eine Szene hat Markus besonders herausgestrichen: Jesus schaut zum Himmel. Und Jesus öffnet mit seinen Augen den Himmel!
Viele Worte verliert Markus sowieso nicht. Unter den Evangelisten ist er eigentlich der Verschwiegenste und Schweigsamste. Andeutungen von ihm sind oft so kostbar, dass sogar der Speichel zu sprechen beginnt – und von Liebe erzählt. Während ich, stirnrunzelnd, leicht angeekelt, wegschaue, geschieht ein Wunder: das Wunder einer Berührung, die zärtlicher nicht sein kann. Was dann geschieht, ist eigentlich nicht einmal neu.
„…Sogleich öffneten sich seine Ohren,
seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit,
und er konnte richtig reden..“
Wir wussten doch immer schon, dass Worte wachsen, wenn sie aus Vertrauen kommen - und dass Zungen gelöst werden, wenn sie Vertrauen finden, weiß jeder von uns. Es ist die Liebe, die Worten Flügel verleiht, Ohren verzaubert und Zungen flink macht. Fehlt die Liebe, reden sich die Worte um Kopf und Kragen – oder sie verstummen ganz leise.
Hephata!
Hephata! Es klingt wie ein Zauberwort, ist aber keins. Ein Wort aus der Muttersprache Jesu! Hier in der Fremde. Tu dich auf! Es gibt nicht viele Stellen wie diese! Wie sich das anhört? Komm, lockt die Mutter ihr Kind, als es die ersten Schritte wagt. Komm, sagt der Opa, als seine Enkelin Radfahren lernt. Komm, tröstet der Vater seine Tochter, als er sie ins Krankenhaus bringt. Immer wieder: Hephata! Tu dich auf! Hab keine Angst! Komm! Das Kind läuft in die Arme der Mutter. Die Enkelin schmiegt sich an die Schulter ihres Opas. Die Tochter spürt die Hand ihres Vaters, als sie alleine in ihrem Bett liegt. Im Krankenhaus. Hephata! Hephata heißt auch: Du tust dich auf! In diesem Wort steckt eine so große Gewissheit, dass Ohren und Zungen zu singen anfangen.
Eine Szene hat Markus besonders herausgestrichen: Jesus schaut zum Himmel. Und Jesus öffnet mit seinen Worten den Himmel!
Wundergeschichten müssen sich immer rechtfertigen. Bist du auch wahr, Geschichte? Doch: der unbekannte Mensch, den ich längst in mein Herz geschlossen habe, redet richtig! Er kann, er hat etwas zu sagen. Er ist offen, er ist geöffnet. Dazu gehört auch, die Wahrheit zu sagen, für andere Menschen einzustehen und ein offenes Ohr zu haben. Worte können alles aufschließen. Auch die Herzen. Gott hat das vorgemacht. Sein erstes Wort: Es werde Licht. Und: es ward Licht.
Der Prophet Jesaja hat das kommen sehen:
„Dann werden die Augen der Blinden geöffnet,
auch die Ohren der Tauben sind wieder offen.
Dann springt der Lahme wie ein Hirsch,
die Zunge des Stummen jauchzt auf.“
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Norbert Riebartsch (2003)
Bernhard Zahrl (2000)
Hans Hütter (1997)