Der gute Geist
Martha ist ein guter Geist! Sie ist in der Gemeinde nicht weg zu denken. Ich sehe ihr Gesicht vor mir - so eine treue Seele. Marta agiert umsichtig, engagiert und immer fröhlich, meistens im Hintergrund. Sie kann so ziemlich alles. Die Leute fühlen sich wohl, wenn sie kommen. Sie spüren, dass alles mit Liebe gemacht wird. Der gedeckte Tisch, eine wohltuende Atmosphäre, die Geborgenheit. Marta erzählen die Menschen ihre Geschichten - lieber als dem Herrn Pfarrer, der sowieso nie Zeit hat. Das ist alles so vertraut - dass man nicht einmal "Danke" sagt. Aber gelegentlich wird Marta sehr nachdenklich. Wenn sie die Geschichte hört - die Geschichte von ihrer Namensvetterin. Ihr könnt euch denken, warum?
Nein, hört Marta sich sagen, das hat sie nicht verdient! Hätten nicht alle anpacken können? Dann hätten sie zusammen am Tisch gesessen, gegessen, geredet, gehört, gelacht. Alle hätten etwas davon gehabt! Und in sich gekehrt sagt Marta: Wie steht sie jetzt da - die Marta? Muss sie sich das sagen lassen? "Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden."
Als ob ich (!) jemals einem Menschen etwas wegnehmen wollte! Mit der Hand geht sie über ihren Mund. Aber nun ist es heraus. Ob es jemand gemerkt hat? In ihr rumort es: Marta identifiziert sich mit der Marta, hört Jesu Wort und ist wie vom Schlag getroffen. Mensch, du kennst die Geschichte doch - sagt sie sich. Aber sie tut ihr weh.
Noch ein guter Geist
Weiß Maria eigentlich, was in ihrer Schwester vorgeht? Aber was wissen Menschen überhaupt voneinander, wenn sie nicht über sich, wenn sie nicht miteinander reden? Ich kenne auch eine Maria, die ganz fasziniert davon ist, wie sich ihre Namensvetterin einfach zu Füßen Jesu setzt und ihm zuhört. Es ist ein altes Bild: Jünger sitzen zu Fußen ihres Meisters. Sie sind ganz Ohr - und ganz nah. Dass auch eine Frau nicht nur in diese Rolle schlüpft, sondern von Jesus als Jüngerin im vollen Sinn des Wortes angenommen ist - was für eine Befreiung. Ohne auf Pflichten, Konventionen oder Erwartungen Rücksicht zu nehmen. Er war jetzt da. Was er sagte, war so wichtig, dass es keinen Aufschub duldete, ihm zuzuhören. Im Hintergrund hört sie zwar Marta, aber es ist wie ein Geräusch aus einer anderen Welt. In ihr ist sie jetzt nicht mehr zu Hause. Denn er ist da.
Maria - die, die ich kenne - hat für sich Konsequenzen gezogen: sie will nicht einfach nach Schema "F" leben, sie fragt, was in ihrem Leben wichtig ist, sie möchte Zeit haben für sich, ohne ein schlechtes Gewissen. Sie hinterfragt auch die Rollen und die Rollenzuweisungen in der Kirche. Sie möchte nicht nur Kaffee kochen, in der Küche stehen, sich um den Abwasch kümmern - sie möchte in der Kirche reden. Erzählen, was sie von Jesus gehört und gelernt hat. Wenn sie schon seine Jüngerin ist - dann bitte ganz. Wer Jesus zu Füßen gesessen hat, steht als neuer Mensch auf.
Wenn der Gast zum Gastgeber wird
Ich habe gerade von zwei Frauen erzählt. Sie tragen Allerweltsnamen - und doch auch Namen aus dem Evangelium. Das ist spannend. Spannend für Frauen, die sich in sie einfühlen, ihre Rollen übernehmen, sich mit ihren Rollen auseinandersetzen. Im Evangelium sind es zwei Schwestern. Sie sind so unterschiedlich, wie Schwestern sein können. Wenn wir ihre Geschichte hören, die Lukas in wenigen, aber treffsicheren Zügen zeichnet, bekommen Maria und Marta ein Gesicht. Gesichter, die uns nicht einmal fremd sind. Gesichter, denen wir begegnen.
Dabei ist die Geschichte, die Lukas erzählt, nicht nur die die Geschichte von zwei Schwestern, sondern auch die Geschichte von einem denkwürdigen Besuch. Jesus kehrt bei diesen zwei Frauen ein. Woher er sie kennt? Sie ihn? Lukas scheint sich nicht dafür zu interessieren, umso mehr liebt er es, ungewöhnliche Geschichten liebevoll zu erzählen: Heute zeigt er Jesus als Gast - und macht ihn doch zum eigentlichen Gastgeber. Maria hat die Rolle, ihre Rolle, instinktiv richtig gesehen und - gefunden. Sie setzt sich Jesus zu Füßen. Marta aber, ganz in ihrer Rolle als Gastgeberin, steht am Ende allein da. In gewisser Weise sogar tragisch - diese Geschichte von den beiden Frauen. Die eine hat ihre neue Rolle gefunden, die andere wird sie noch finden müssen. Am Ende bleibt nichts wie es war.
Was Jesus wohl in dem Haus sagte, als Maria sich zu ihm setzte? Lukas deutet nur an, dass er eine "Rede" hält - alle Blicke lenkt er aber auch Maria, die sich zu seinen Füßen setzt. Maria in dieser Rolle - das gefällt Lukas. Wo Frauen doch in die - Küche gehören? Lukas scheint damals schon weit weg gewesen zu sein von solchen Zuordnungen, Klischees und Rollenspielen. Hatte Jesus nicht Maria in seinen Jüngerkreis aufgenommen? Einfach dadurch, dass er ihr eine "Rede" schenkt? Und ihr zutraut, sie zu verstehen? Sie zu leben?
Lukas, das muss ich jetzt auch noch erzählen, hat, bevor er Jesus bei Maria und Marta einkehren lässt, die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt. Gibt es etwas Wichtigeres, als sie zu verstehen - und zu tun? Jesus ist übrigens auf dem Weg nach Jerusalem. Lukas hat daraus einen Reisebericht gemacht. Unterwegs spricht Jesus von seinem Leiden und Sterben, unterwegs erzählt er Menschen auch Geschichten, die ihnen die Augen und das Leben öffnen. Heute ist es Maria, die zu seinen Füßen sitzt. Sie wird wirklich viel zu erzählen haben.
Das Bild im Bild
Ich habe euch doch von Marta erzählt! Von dem guten Geist in der Gemeinde. Nach einem Urlaub erzählte sie mir von einem Bild, das sie - zufällig - in einem Museum gesehen hat. Ein Bild, das einen Blick in das Haus von Marta und Maria wirft. Gemalt hat es Velasquez, der von 1599 bis 1660 lebte:
Zu sehen ist eine junge Frau, die in der Küche steht. Vor sich: Fische, Eier ... Mit einem Mörser zerkleinert sie etwas... Aber es ist kein Lächeln auf ihrem Gesicht. Ernst schaut sie aus dem Bild heraus. Aber ihre Blicke sind leer. In ihrem Rücken steht eine alte Frau. Wie ein Schatten. Mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand weist die alte auf die junge Frau, ihre Augen auf den Tisch gerichtet. Es sieht so aus, als würde sie die Pflichten zuteilen. Sie sieht aus wie das schlechte Gewissen. Sie trägt die Züge eines unbarmherzigen Über-Ich. Es liegt kein Glanz über dieser Szene. Aber der Maler hat in der Küche ein Bild aufhängt. Es zeigt - im Sessel und im Talar eines Gelehrten - Jesus. Vor ihm, vor seinen Füßen, sitzt Maria. Hinter ihr steht Marta. Über den Kopf der Schwester hinweg scheint sie in einem Disput mit Jesus zu sein. Die ausgestreckte Rechte drückt die Bitte aus: Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Und Jesus wehrt mit der linken Hand, leicht von der Lehne erhoben, ab. Maria, in sich gekehrt, die Hände in der Kleidung verborgen, füllt die Mitte aus. Sie - die Hörerin - steht nicht auf. Nichts deutet daraufhin, dass sie es tun wird.
Marta erzählt, dass sie lange vor diesem Bild gestanden hat.
Auf die Plätze
Dieser Tage erst meinte Marta beiläufig - darf ich das noch erzählen? - wir würden uns auch in der Kirche Köpfe und Herzen mit vielen Dingen zustopfen, uns Sorgen und Mühen machen und viel zu viel reden - nachdenklich kam es über ihre Lippen: ob wir "das gute Teil", das Bessere, erwählen? Viele dunkle Schatten würden hinter unseren Rücken stehen, verknöchert, unbarmherzig, immer mehr fordernd. Ich habe nichts gesagt. Ich war nur überrascht: Marta hatte sich längst hinter ihre Schwester Maria gestellt.
Von Maria soll ich im Übrigen grüßen. Als ich ihr erzählte, heute über "ihre" Geschichte zu predigen, lachte sie.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne,
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Hans Hütter (1998)