Zwei Szenen stehen sich in der Lesung aus dem Buch Josua und dem Evangelium gegenüber. In der ersten versammeln sich die zwölf Stämme Israels und beschließen, am Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der sie aus der Sklaverei heraus- und durch die Wüste geführt hat, festzuhalten. In der zweiten fragt Jesus die zwölf Jünger, ob auch sie weggehen wollen. Sie entscheiden sich für das Bleiben, denn Jesus hat Worte, die ewiges Leben schenken.
Gott oder Götter
Eine Predigt in zwei Szenen soll es heute sein. Szene 1 führt uns in eine Geschichte aus dem Alten Testament, Szene 2 in eine Begegnung Jesu mit seinen Jüngern. Ein gemeinsames Thema gibt es auch: Bleiben – oder gehen! Diese Alternative macht mir auch Sorge. Um es gleich vorweg zu sagen.
Aber lassen wir uns erst einmal auf Szene 1 ein. Im Buch Josua – Josua ist der Nachfolger des Mose – wird von einem größeren Treffen in Sichem erzählt. Die Stämme Israels, zwölf an der Zahl, haben sich zusammengefunden. Auch wenn nur von den Oberhäuptern, Richtern und Listenführer die Rede ist. Dabei sind sie alle. Zwölf Stämme – und ganz viele Menschen. Es gibt auch nur einen Tagesordnungspunkt: die Entscheidung, Gott zu dienen oder den fremden Göttern. Was sich jetzt so einfach anhört, ist in Wirklichkeit eine Entscheidung mit größter Tragweite. Sie bestimmt die Zukunft. Und sie soll jetzt, heute, getroffen werden. Sie duldet keinen Aufschub. Eine Revision ist auch nicht vorgesehen. Sozusagen eine Entscheidung für alle Zeiten – und für alle Nachkommen.
Vielleicht bin ich zu schnell. Das Volk Israel hat den Gewaltmarsch durch die Wüste überstanden. Die qualvolle Zeit in Ägypten liegt lange zurück. Jetzt sind wir angekommen, jetzt haben wir das Ziel erreicht – sagen die Leute. Man spürt die Erleichterung, man hört das Lachen. Endlich geschafft. Ich kann richtig mitfühlen! Es ist, als ob große Steine von den Seelen fallen. Alles fühlt sich jetzt ganz leicht an. Endlich geschafft!
Der Gott, der uns bis hierher geführt hat
Aber in dem Land – dem fremden – gibt es auch Götter, denen Vertrauen entgegengebracht wird. Von den Menschen, die hier leben. Seit langem leben. Die Riten, Gebräuche und Feste sind so verschieden nicht von denen, die die Fremden mitbringen. Nur ein Unterschied fällt auf: Mit dem Gott, der sein Volk Israel aus Ägypten geführt hat, haben die Israeliten in einer harten und langen Zeit so gute Erfahrungen gemacht, dass sie sich auch jetzt, in einer neuen Situation, zu ihm bekennen sollen. Es ist der Gott, der Menschen liebt. Der Menschen trägt. Der Menschen führt. Ins Leben führt. In die Weite. In eine neue Zukunft. Es ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.
Eigentlich ist Sichem ein Nest, wird aber zu einem heiligen Ort in einem fremden Land. Weil Menschen, verbunden durch eine gemeinsame Leides- und Hoffnungsgeschichte, hier eine Lebensentscheidung treffen:
„Der Herr, unser Gott, war es, der uns und unsere Väter aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt hat und der vor unseren Augen alle die großen Wunder getan hat. Er hat uns beschützt auf dem ganzen Weg, den wir gegangen sind, und unter allen Völkern, durch deren Gebiet wir gezogen sind. Auch wir wollen dem Herrn dienen; denn er ist unser Gott.“
Dieses Bekenntnis wurzelt in gemeinsamen Erfahrungen – und in der Begegnung, die Gott Menschen schenkt. Auf dem Wege. Jetzt ist nicht nur alles geschafft – jetzt beginnt etwas Neues.
Fremde Götter, fremde Menschen
Die Frage, wie mit den fremden Göttern umzugehen ist, bewegt uns auch. Viele Religionen sind bei uns inzwischen zu Hause. Sie bauen ihre Tempel, ihre Moscheen. Bei aller Verschiedenheit und Vielfalt: wir tolerieren sie – und manchmal feiern wir sogar zusammen Feste. Ihre Feste. Unsere Feste. Wir essen und trinken zusammen, reden miteinander, kommen uns nahe. Das Fremdartige verliert in der menschlichen Begegnung das Unheimliche. Aber die Frage, wer denn jetzt die richtige Sicht hat, den richtigen Glauben, die einzige Wahrheit, nistet sich unausgesprochen in unsere Köpfe und Herzen ein.
Auch wenn wir uns nicht in Sichem treffen, auch keine Odyssee hinter uns haben: wir erzählen dann unsere Geschichte mit Gott, den wir als Vater Jesu anrufen und verehren. Er hat die Welt geschaffen und das Licht geschenkt, er hat uns aus Liebe erlöst und uns als Kinder angenommen, er hat uns seinen Geist geschenkt und uns als – seine - Kirche in die Welt geschickt. Das ist ein Lebensprogramm. Und ein riesiger Schatz. Ein Schatz, der viele Erfahrungen in sich birgt. Manchmal merke ich, wie ungeübt – und wie ängstlich - ich bin, von liebevollen Erfahrungen zu erzählen, die die Welt verändern und hell machen.
Das Volk Israel hat die ägyptische Unterdrückung und Knechtschaft hinter sich lassen können. Ein gelobtes Land erschien den Menschen vor ihren Augen. So beschwerlich und abgründig auch der Weg durch die Wüste war. Es war, als ob Gott auf seine Menschen wartet – und doch auch hinter ihnen geht. An der Seite der Menschen sah man ihn auch.
Die Erfahrungen, die das Volk Israel gemacht hat, haben sich in vielen Geschichten und Bildern einen Raum geschaffen, der bis heute Hoffnungen beheimatet. Es geht um Aufbruch, um Neuanfang – und um die Liebe, die Menschen und Gott teilen.
Sich näher kommen
Die Frage, wie mit den fremden Göttern umzugehen ist, muss uns bewegen. Sie verwandelt sich aber. Sie wird zu der Frage, wie wir mit fremden Menschen umgehen. Das Thema Flüchtlinge lässt uns zurzeit nicht los. Auch nicht die entsetzlichen Schicksale, die mit Gesichtern und Namen verbunden sind. Die meisten kennen wir nicht einmal. Aber wir stoßen auf unsere eigenen Ängste, auf unsere Vorurteile – und Vorbehalte. Die Menschen, die zu uns kommen, bringen nicht nur ihre Religion mit – sie bringen Hoffnungen mit. Wenn wir von ihnen hören und erzählen, dürften wir an das Volk Israel denken. Und an den Gott, an unseren Gott, der seine Menschen liebt. Und in die Freiheit führt. Die Frage, wer denn jetzt die richtige Sicht hat, den richtigen Glauben, die einzige Wahrheit, verwandelt sich auch in die Frage, wie wir einander mit Liebe begegnen können.
"Wollt ihr auch weggehen?"
In der Szene 1 treffen sich die Stämme Israels, um einen Neuanfang in fremder Umgebung zu besiegeln; mit dem Bekenntnis, Gott treu zu bleiben, ihn nicht zu verlassen, ihn auch nicht einzutauschen. Überraschenderweise treffen wir in Szene 2 auf Jünger Jesu, die von ihm weggehen. Die ihn nicht länger ertragen können. Die sich von ihm lossagen müssen. „Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören?“, sagen sie. Es ist ein ehrlicher Befund, auch eine Lebensentscheidung. Jesus fragt dann seine zwölf Jünger: Wollt ihr auch weggehen? Simon, der den schönen Beinamen »Fels« trägt, Petrus eben, antwortet. Stellvertretend. Oder auch einfach nur als »Sprecher«: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“
Worte, die neues Lebens schaffen
So klein die Szene 2 ist – sie endet auch mit einem Bekenntnis, mit einer Entscheidung: Jesus hat Worte des ewigen Lebens. Es sind Worte, die ewiges Leben schenken. Es sind Worte, die aus ewigem Leben kommen. Es sind Worte, die den Himmel auf die Erde bringen – und die Erde in den Himmel. Was mögen das für Worte sein? Was können diese Worte ausrichten? Hören wir Jesus zu wie seine zwölf Jünger, wird eine neue Welt geschaffen. Sehen wir, wie Jesus sich Menschen zuwendet, sehen wir das Reich Gottes. Die Worte ewigen Lebens informieren nicht, berichten nicht, beklagen nicht: sie schaffen, was Leben ausmacht. Liebe, Versöhnung, einen neuen Aufbruch, ein Licht, das alles verwandelt. „Du bist der Heilige Gottes!“
Zwölf Stämme Israels, zwölf Jünger Jesu.
Die Frage „bleiben oder gehen?“ steht im Raum. - Hier.
Ich möchte mich zu Jesus bekennen und aus seinem Wort Kraft schöpfen.
Ich möchte die Welt in seinem Licht sehen
und aus seinem Wort Mut schöpfen.
Weggehen? Nein, das kann ich nicht.
Bin ich nicht zum Glauben gekommen?
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Claudia Simonis-Hippel (2012)
Norbert Riebartsch (2012)
Alfons Jestl (1997)