"Oh mein Gott, ein Mensch!”
"Oh mein Gott, ein Mensch!” - Dutzende von Situationen gehen mir durch den Kopf, zu denen dieser Ausruf passen könnte. Ich stelle mir etwa das Glück von Menschen vor, die gerade ihr neugeborenes Kind in den Armen halten und nicht fassen können, was ihnen im Moment der Geburt geschenkt wurde. Mit Blick auf das Jahr 2011 stelle ich mir etwa auch Teilnehmer von Rettungsexpeditionen vor, die in den verschiedenen Katastrophensituationen dieses Jahres nach verzweifelter Suche plötzlich bei einem Überlebenden stehen und erleben dürfen, dass ihr Einsatz Sinn macht: "Oh mein Gott, ein Mensch!”
Ich stelle mir auch vor, wie den Verantwortlichen der verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Situationen dieses Jahr vielleicht zwischendurch einmal bewusst wurde, dass hinter jedem Dossier einer Bankangelegenheit und vor jeder Parlamentsentscheidung immer Gesichter zu sehen sind, - Betroffene, die aufgrund von Vorgängen in Politik und Wirtschaft vielleicht Schicksalsschläge erleiden müssen: "Oh mein Gott, ein Mensch!
Ein bescheidener Anfang
An diesem Abend schauen wir in die Krippe im Stall zu Bethlehem und dieser Satz bekommt eine ganz andere Bedeutung: "Oh mein Gott, ein Mensch!” Gott wird Mensch, er wird einer von uns - und das nicht in Prunk und Braus, sondern in sehr uncharmanten Verhältnissen: Ein Stall muss herhalten für den Moment der Geburt - das ist nicht die klinisch saubere Situation eines Kreißsaales. Die erste Gesellschaft Jesu: nicht Kinderärzte und Hebammen, sondern Ochs und Esel, - ein wenig später Hirten und deren Herden. Nein, ein Kommen Gottes in die Gegenwart der damaligen Zeit hat sich wohl keiner so vorgestellt: Der Gottessohn, der im Stammbaum einen König David hat, kommt nicht mit Pomp, mächtig und stark daher, sondern armselig, schwach, hilflos.
Zum Höhepunkt des Heilsplans Gottes also solch eine Pleite? Kann denn das wahr sein? Ja, das ist wahr! - Und: Das ist Gottes Programm! Wenn Gott Mensch wird, passiert das nicht zuerst mit den Mächtigen und Starken, nicht mit den Reichen und Glücklichen. Wenn Gott Mensch wird, steht da als erstes die Solidarität mit jenen Menschen, die nichts mehr haben als diesen Gott - denn hier kann er viel Platz einnehmen.
Geboren werden, um aufzuerstehen
"Oh mein Gott - dieser Mensch!” - Ungefähr so tönt dann später einmal das Wort von Pontius Pilatus, des Jerusalemer Statthalters, der Jesus am Ende dessen Lebens verurteilen soll und nicht weiß, warum. An Weihnachten beginnt, was am Kreuz vorläufig endet: die Lebensgeschichte eines Mannes, der in dieser Welt Mensch werden ließ, was Gott mit ihr vor hatte. Ein menschliches Angesicht sollte diese Welt bekommen, im wahrsten Sinn des Wortes. Und damit ist noch lange nicht Schluss. Denn: Was in der Krippe im Stall zu Bethlehem begann und am Kreuz auf Golgatha scheinbar so schmählich endete, hat in der Auferstehung des Gottessohnes eine Kraft abbekommen, die bis heute diese Welt verändern kann.
Denn wenn Gott seine Solidarität mit uns Menschen zeigt, wenn er selbst alle Schwachheiten und Nöte der Menschen kennen lernt, dann kann die Folge nicht einfach allein ein Fest der tiefen Gefühle sein. Wenn Gott mit uns solidarisch wird und unsere Natur annimmt, dann ist dann nicht einfach ein nettes Weihnachtsgeschenk, dann ist das auch eine Gabe, eine Aufgabe, die weiter über diese festlichen Tage hinaus Bestand hat.
Immanuel - Ich bin mitten unter euch
Und hier kommen wir Christinnen und Christen ins Spiel. Hier lockt uns die Frohe Botschaft heraus aus der festlichen Atmosphäre, weg vom Weihnachtsbaum. Jetzt dringt der Rufe auch an unser Ohr: "Oh du Mensch - da ist dein Gott!” Gottes Menschwerdung geschieht in Zeit und Geschichte. der Evangelist Matthäus beschreibt dazu sogar einen Stammbaum Jesu. Und will damit sagen: Gott ist nicht so eine unfassbare Idee, sondern ganz konkret. Und dieser Gott will fortgetragen werden durch kommende Zeiten - mit unseren Händen und durch unsere Ideen. Das Ereignis von Bethlehem, die Menschwerdung Gottes in dieser Welt, soll weitergehen: Das ist unsere Aufgabe als Christinnen und Christen. Wir sollen dieser Welt ein menschlicheres Antlitz verleihen. Und das ist nicht eine fromme Idee, sondern konkreter Aufruf. Wo jeder und jede von uns zupacken kann, lässt sich mit einem ehrlichen, sensiblen Blick durch das eigene Leben und durch die eigene Umgebung schnell erfassen.
Trotz allem
Dass der Frieden und die Freude, die dieses Weihnachtsfest verkünden, nicht ausschließlich sind, das wissen wir, das ist unsere tägliche Erfahrung. Unfriede und Lieblosigkeit sind in den persönlichen wie in den weltpolitischen Zusammenhängen auch geradezu daheim. Aber Scheitern und Untergang sind ebenfalls im Werdegang des Gottessohnes zu finden. Darum sind eben nicht zuerst die Geburt Jesu, nicht sein Sterben und sein Tod jene Ereignisse, die so heilsstiftend sind, sondern es ist vor allem die Botschaft der Auferstehung, die uns wissen lässt, dass in allem Dunklen dieser Welt immer auch ein Neuanfang steckt.
Die Liebe Gottes hat Hand und Fuß bekommen. Wer Gott liebend ergreift und ihn festhält, findet Halt und Geborgenheit. Auch dann, wenn das Leben in Rutschen kommt, wenn die Festfreude getrübt wird oder gar nicht erst aufkommt, können wir uns auf diesen Gott verlassen, weil er da ist. Und darum dürfen wir auch sehr hemmungslos mitten in allem Leid der Welt diesen Wunsch rufen: Habt frohe und gesegnete Weihnachten!