Wenn in diesen Tagen die Augen aller Fußballbegeisterten nach Brasilien schauen, erblicken sie hoch über in Rio de Janeiro das Wahrzeichen der zweitgrößten Stadt: Die 30 Meter hohe Statue "Christo Redentor". Für mich ein Stein gewordenes Bild des heutigen Evangeliums: Jesus mit weit ausgebreiteten Armen, die seine Einladung untermauern: "Kommt!"
Wie Jesus betet
Zunächst fällt mir etwas Ungewöhnliches auf: Oder beten Sie auch, bevor Sie jemanden zu sich einladen? Ich muss Ihnen gestehen, auf diese Idee bin ich noch nicht gekommen. Jesus tut es. Sein Gebet versteht der Evangelist Matthäus auch als Antwort auf die »Zeichen der Zeit«. Denn er leitet es sehr feierlich mit folgenden Worten ein: "In jener Zeit antwortend, sprach Jesus".
Jesus betet und verarbeitet so die vielen Eindrücke und Erfahrungen, die auf ihn eingeströmt sind, in den Städten Chorazin und Betsaida. Doch noch mehr passiert: Schnell zeigt sich die Frucht seines Betens: Jesus kommt zur Ruhe und zu sich selbst. Dabei erkennt er seine - ihm von Gott geschenkte - Würde. Ihm wird seine Bedeutung als Mittler und Offenbarer neu bewusst: "Alles wurde mir übergeben von meinem Vater [...] ihn kennt keiner, außer ich und der, dem ich es offenbaren will."
Erst jetzt, nach Zwiesprache mit seinem Vater und Nachdenken über sich, wendet er sich an die Menschen, insbesondere an die Unmündigen, Geplagten, von der Last des Lebens niedergedrückten. Denn Jesus weiß: In Zeiten, in denen es eng wird, Hektik und Stress die Luft rauben, wenn's eine zum andern dazukommt und die Last uns erdrückt, ist es lebenswichtig einen Ort zu haben, wo ich ent-spannen und auf-atmen kann.
Für den einen ist es ein Theater- oder Konzertbesuch auf den er sich schon lange freut. Für einen anderen ein lauschiges Plätzchen in der Natur. Oder auch nur ein Film, oder ein spannendes Spiel, das zerstreut und einem alles vergessen lässt. Für Jesus war es das Gebet und seine Beziehung zu Gott.
Erleichterung
Lasten und Sorgen wurden ihm, Ihnen, uns allen auferlegt, ohne dass wir gefragt wurden. Mühselig und beladen sind wir so schwer, dass uns das Wasser sprichwörtlich oft »bis zum Hals« steht. Gerade dann spricht Jesus seine Einladung aus - mit offenen Armen: "Kommt alle zu mir. Ich werde euch Ruhe verschaffen."
Doch macht mich dann im Folgenden der Nachsatz wieder stutzig. Schiebt Jesus hier nicht zwei Bedingung und eine Einschränkung hinterher?
Erstens: Sein Joch auf sich nehmen. Zweitens: Von ihm lernen.
Und schließlich scheint seine "Ruhe", die er uns verschaffen will, dann doch nur "für die Seele" zu gelten?
Ich brauche Hilfe. Erkundige mich zuerst nach dem "Joch": Das Bild stammt zweifellos aus der bäuerlichen Kultur. Joch ist das Geschirr, das Ochsen oder Pferden um den Hals gelegt wurde, damit sie den Pflug oder einen Wagen ziehen konnten. Das Joch selbst ist dabei nicht die eigentliche Last - es ist genau genommen ein Werkzeug, um schwere Lasten ziehen zu können, möglichst gut.
Ein leichtes Joch
Die Lasten unseres Lebens kann uns niemand wegnehmen. Auch Jesus nicht. Er sagt ja nicht: »Ich nehme euch alle Lasten ab, ich befreie euch von der Mühsal des Lebens.« Nein. Er sagt: »Ich gebe euch ein Werkzeug, mit dem ihr diese Lasten leichter bewältigen könnt!« "Mein Joch."
In einer Anmerkung lese ich, dass mit "Joch" in der jüdischen Tradition »das Gesetz« gemeint ist, näherhin das Gesetz des Mose, die Tora. Das Joch als Werkzeug ist aus Holz, also hart, und mit Leder überzogen. Gesetze, Weisungen Gottes, können auch hart sein, zur Last werden, wenn ich unter dem Druck stehe, alles richtig machen zu müssen, alles genau erfüllen zu müssen. Dann drücken mich die Vorschriften zu Boden, spüre ich die Härte und Schwere des Gesetzes.
Jesus setzt in seiner Einladung betont das Wort "Mein" davor. Jetzt meint er das Gesetz des Mose in seiner Auslegung. Der Kirchenlehrer Augustinus deutet das so: "Was auch immer hart ist in dem was uns auferlegt ist: Die Liebe macht es leicht." (Luz 2,220). Um im Bild zu bleiben: Liebe ist der Überzug, der die Härten und Kanten des Gesetzes mindert. Jesus kann und will die Menschen nicht von der Last des Gesetzes und ihres Lebens befreien. Aber ein Joch, ein Hilfsmittel, gibt der ihnen: Den Schlüssel der Liebe.
Auf die Einstellung kommt es an
"Es kommt immer darauf an, welche Einstellung Du zu den Dingen und Menschen hast," schrieb vor Jahren mein Mitbruder Pater Heinrich Stummer. "Wenn Du die Menschen magst, dann kannst Du sie leichter ertragen. Wenn Du Deine Arbeit gern machst, dann ist sie Dir keine solche Last. Wenn Du die Dinge mit Ruhe und Gelassenheit angehst, dann kannst Du sie leichter bewältigen."
Jesus will uns auch darin Vorbild sein: Sein leidenschaftliches Leben, engagiertes Reden und Lehren künden von Menschenfreundlichkeit und Mut, vom gütigen und von Herzen demütigen Heiland.
Ruhe für die Seele
Und schließlich noch das letzte Problem der Ruhe, näherhin der "Ruhe für eure Seele." Diese Redewendung findet Jesus beim Propheten Jeremia (6,16) vor. Er zitiert sie. Vor diesem alttestamentlichen Hintergrund meint das Wort "Seele" ganz umfassend den "Sitz des Lebens im Innern des Menschen". Jesus verschafft Ruhe und Heil für den ganzen Menschen, nicht nur für einen Teil, verdeutlicht der Kommentar.
Von Jesus eingeladen
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, "Perle des Matthäus-Evangeliums" wird unser heutiger Ausschnitt von Auslegern genannt. Damit eine Perle schimmert und glänzt, muss sie im warmen Licht der Spektralfarben betrachtet werden. So muss auch ich auf Jesu Einladung mit einem zusammengesetzten Licht schauen: Mit dem Licht des Textzusammenhangs, des Alten Testaments und der jüdischen Religion. Diese Gesamtschau zeigt: Seine Einladung ist für alle offen. Jeder und jede möge bei IHM zur Ruhe kommen und mit seinem Werkzeug, der Liebe, Gesetzesvorschriften, Menschen und Situationen erschließen.
Das nimmt nicht Last und Sorgen, aber Jesus erleichtert sie: Am Abend, vor dem Schlafengehen, wenn ich beim Abendgebet IHM alles übergebe und anvertraue. Mitten am Tag - in der Mittagspause - wenn ich mich still in die Kirche setze. Im Urlaub, wenn ich dem Alltag den Rücken kehre und in der Schöpfung über den Schöpfer staune; oder gleich nachher, wenn Jesus sich mir in die Hand gibt.
Immer gilt seine Einladung: "Lass Dich von mir einspannen. Du verlierst Deine Freiheit nicht. Aus all den Zwängen, die Dir auferlegt sind, die Du Dir oft selber auferlegst in Deinem Streben nach immer mehr Erfolg, aus all Deinem Hasten, das Dich nicht zur Ruhe kommen lässt, möchte ich Dich lösen. Ich richte Dich auf, damit Du wieder atmen kannst und lebst. - Komm zu mir."
Norbert Riebartsch (2008)
Maria Wachtler (2002)
Johann Pock (1999)