Ein Zeichen der Liebe
Wenn wir die Texte der Evangelien über die letzten Lebenstage Jesu vergleichen, dann fällt auf, dass sich bei Johannes im Gegensatz zu Matthäus, Markus und Lukas kein Bericht über das letzte Abendmahl findet. Warum Johannes einen eigenen Bericht unterließ, können wir nicht sicher begründen.
Auffällig ist, dass an der Stelle, wo die anderen Evangelisten vom Abendmahl berichten, Johannes die Liebe in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Schon die Anzahl der Kapitel, die er in seinem Evangelium an dieser Stelle dem Thema "Liebe" widmet, zeigt, welch enormes Anliegen es dem Evangelisten gewesen sein muss, die Herzen der Gläubigen für die Liebe zu öffnen.
Johannes eröffnet das bei ihm umfangreich behandelte Thema "Liebe" mit dem Bericht der Fußwaschung. Durch sie werden die Jünger zu einem ersten Nachdenken über die innere Einstellung Jesu herausgefordert. Nicht Herrschen, nicht Herumkommandieren war Jesu Stil, sondern das von der Liebe bestimmte Dienen, das sich Hinabbeugen bis zu den Geringsten, zu den Verachteten und Verstoßenen. Diese innere Haltung sollen auch die Jünger übernehmen und sich aneignen.
Umfassende Liebe - das A und O des Christentums
Darauf folgt im Bericht des Johannes eine Belehrung Jesu zur Jüngerschaft, die in dem Satz gipfelt: "Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt" (13,35). Um das Ausmaß seiner Liebe zu verdeutlichen, weist Jesus die Jünger darauf hin: "Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt". Es ist also nicht "ein bisschen" Liebe, eine begrenzte Gelegenheits-Liebe, die Jesu Handeln bestimmt, sondern eine umfassende Hinwendung zum Nächsten ohne Einschränkungen oder Abstriche. Diese vollkommene Liebe sollen die Jünger und ihre Nachfolger, die Christen, anstreben: "Liebt einander, wie ich euch geliebt habe" (15,12).
Was die Jünger bisher an Jesus erlebt haben bis hin zu der symbolischen Handlung der Fußwaschung, ist erst der Anfang seiner Liebe. Die besondere Herausforderung und Bewährung in der Liebe kommt mit dem Kreuzweg auf Jesus ja erst noch zu. Darum antwortet Jesus dem Petrus: Was ich jetzt tue, verstehst du noch gar nicht voll und ganz in seinem Ausmaß und in seiner umfassenden Bedeutung. Erst später, nach allem Leid, das mit der Verurteilung, Geißelung, Dornenkrönung und Kreuzigung von Jesus durchgestanden wurde, wird den Jüngern dämmern, welch entscheidende Rolle die Liebe im Verhalten Jesu und damit im Erlösungswerk gespielt hat. Nur weil Jesus bis zum letzten Atemzug der Liebe treu geblieben ist, ohne auszuscheren, wurde er unser Erlöser.
Die Liebe, so will Johannes im Blick auf Jesus hervorheben, ist das A und O des Christentums. Dies soll den Gläubigen jedes Mal intensiv neu bewusst werden, wenn sie das Leiden Christi betrachten.
Stufen der Liebe
Die Liebe, zu der Jesus die Jünger aufruft und für die Johannes die Gläubigen gewinnen will, kennt Abstufungen der Herausforderung.
Am leichtesten fällt uns die Liebe in der Form der Gefälligkeit. Sie findet sich dort, wo wir dem Nächsten etwas Gutes tun, das ihn erfreut, das er aber zum Überleben im Augenblick nicht dringlich bräuchte. Ein freundliches Wort, ein gemeinsamer Sparziergang, gemütliches Zusammensein, für den anderen etwas mit erledigen oder ihn mit etwas Schönem unerwartet überraschen, das alles würde ich unter dem Stichwort "Liebe als Gefälligkeit" einordnen. Mein Verhalten zeigt dem anderen, dass ich ihn wertschätze und ihm aufmerksam und liebevoll begegnen will.
Selbst die Fußwaschung würde ich hier einordnen. Die Jünger und Jesus hätten gut ohne Fußwaschung miteinander Mahl halten können. Jesus vollzieht sie, weil er mit ihr in besonderer Weise verdeutlichen kann, wie er zu ihnen, seinen Jüngern, steht. Mit Worten drückt er es aus in dem Satz: "Ich nenne euch nicht Knechte, sondern Freunde" (vgl. 15,15). Jesus will den Jüngern deutlich machen: Es gibt nichts Gutes, das ich euch nicht antun würde, selbst wenn ich mich dabei tief erniedrigen müsste.
Eine zweite Form der Liebe würde ich benennen als "Hilfe in Notlagen". Dem Nächsten beistehen und helfen ist so der Normalfall, den wir als Liebe und Liebesdienst bezeichnen. Je nach Situation kann uns in diesen Fällen gelegentlich viel an Zeit und Kraft abverlangt werden. Die Liebe als "Hilfe in Notlagen" ist oft um vieles schwieriger und anstrengender zu leben als die Liebe in der Form der Gefälligkeit.
Eine dritte Form von Liebe können wir als "Beistand" bezeichnen. Die Not des anderen ist so geartet, dass wir ihm bei bestem Willen nicht helfen können. Konkrete Hilfe zu gewähren, liegt nicht in unserer Macht oder unseren Möglichkeiten. In solchen Situationen den anderen mit seiner Not, ihn in seinem Leid nicht allein lassen, ihm zeigen, dass unser Herz bei ihm ist, ist eine Form der Liebe, die zwar die Not des Augenblicks nicht wendet, aber dem anderen enorm hilft, seine schwierige Lage durchzustehen.
Die Höchstform der Liebe findet sich dort, wo wir um der Liebe willen sogar bereit sind, Nachteile in Kauf nehmen. Wir weigern uns z.B., zwielichtige Machenschaften mitzumachen und werden darum geschnitten oder übergangen. Wir stehen zu unseren Überzeugungen oder unserem Glauben und werden darum verspottet oder bei vielen Gelegenheiten bloßgestellt. Oder unsere Liebe, Güte, Hilfsbereitschaft werden schamlos ausgenutzt. Und auch das hat es zu allen Zeiten gegeben, dass Menschen ihr Leben lassen mussten, weil sie sich aus ihrer Liebe und Verantwortung heraus für andere, Wahrheit oder Gerechtigkeit eingesetzt haben.
Sich der Liebe verschreiben
Sich der Liebe verschreiben, die Liebe leben in ihren unterschiedlichen Formen, dazu will der Evangelist Johannes bewegen. Christen aller Zeiten haben sich bemüht, nicht gedankenlos an der Liebe vorbei zu leben. Auch wir wollen sicher zu denen gehören, die nicht ausscheren, sobald uns die Liebe herausfordert und Kraft abverlangt. Wie die ersten Christen Kraft für die Liebe aus der Feier der Eucharistie schöpften, so haben auch wir uns um den Tisch des Herrn versammelt, um uns mit der Gnade und Kraft von oben für unsere Liebe beschenken zu lassen. Sagen wir Dank für alle Liebe, die wir erfahren durften, und bitten wir um das Geschenk der Gnade, selbst immer mehr liebende Menschen zu werden.