Zweimal sterben?
Menschen, die einmal bereits in einen Sterbeprozess eingetreten waren, aber noch einmal ins Leben zurück geholt werden konnten, erzählen des Öfteren, dass ihnen das zunächst unangenehm war. Das Sterben – soweit sie es erlebt hatten – war für sie nicht das schreckliche Ereignis, als das es meist gefürchtet wird. Manche von ihnen berichten, dass sich für sie durch diese Erfahrung die übliche Angst vor dem Sterben gemildert habe, bzw. dass sie diese ganz abgelegt hätten.
Im Evangelium haben wir einen Ausschnitt aus der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus gehört. Lazarus und dessen Schwestern Martha und Maria waren mit Jesus befreundet. Als man Jesus die Nachricht überbrachte, dass sein Freund todkrank sei, brach er nicht sofort auf, um diesen vor dem Sterben zu bewahren, sondern ließ sich Zeit, um an ihm gleichsam ein Exempel zu statuieren, das zeigt, dass er der Herr auch über den Tod ist und seinen Freund sogar aus der bereits begonnenen Verwesung zurückholen kann.
Wenn man einzelnen Aspekten dieser Erzählung nachgeht, kommt man zu fremd anmutenden Momenten. Jesus mutet seinem Freund und seinen Freundinnen zu, dass sie die ganze Dramatik, die mit dem Sterben verbunden ist, durchleiden, um sie zur Erkenntnis zu führen, dass er der Sohn Gottes und Herr über Leben und Tod ist. Hinzu kommt, dass Lazarus ein zweites Mal wird sterben müssen. Ob dieser zweite Tod leichter zu ertragen war, sei dahingestellt.
Begrenzte Lebenszeit
Zu welcher Einsicht kann uns diese Erzählung führen? - Zunächst rüttelt sie nicht an der Tatsache, dass der Tod zu unserem Leben gehört wie die Geburt. Leben gibt es nicht ohne den Tod. Die Lebenszeit, die uns gegeben ist, ist durch den Tod begrenzt. Das setzt uns in gewisser Weise unter Druck zu reflektieren, was wir in der zur Verfügung stehenden Lebenszeit anfangen, wie wir sie gestalten und mit welchem Sinn oder Inhalt wir sie ausfüllen wollen. Denn mit dem Tod ist unsere Gestaltungsmöglichkeit zu Ende.
Ein Tag wie Allerseelen konfrontiert uns mit der Frage, welchen Sinn wir in unserem Leben sehen und welchen Sinn wir ihm geben wollen.
Im Blick auf die Menschen, deren Lebenszeit bereits zu Ende ist, lässt mich deren Tod auf ihr Leben zurückschauen und der Frage nachgehen, welchen Sinn diese – soweit ich sie gekannt habe – ihrem Leben gegeben haben, was ihnen gelungen ist, woran sie gescheitert sind.
Das Wissen, dass auch meine Lebenszeit begrenzt ist, erfüllt mich mit Ehrfurcht vor dem, was andere aus ihrem Leben gemacht haben. Es erfüllt mich aber auch mit Dankbarkeit für alles, was aus deren Leben auf mich herübergekommen ist, für alle Liebe, alle Freundschaft, für jeden Entwicklungsimpuls und nicht zuletzt den Eltern gegenüber Dank für das Leben selbst.
Allerseelen ist ein guter Tag, dieser Dankbarkeit Raum zu geben.
Allerseelen ist für mich aber auch Anlass, all diese Sinnfragmente nebeneinander zu betrachten wie ein großes Puzzle. Ich versuche, darin ein großes Bild zu erkennen, einen Sinn zu entdecken, der uns allen gemeinsam ist.
In diese Suche hinein trifft die Frohe Botschaft Jesu vom liebenden Schöpfer, der uns nicht dem Tod überlässt, sondern uns von Jesus aus dem Grab herausholen lässt, wie dieser Lazarus herausgerufen hat. Sie lässt uns auch hoffen, dass der Schöpfer vollendet, was für uns in der kurzen Lebenszeitspanne nicht erreichbar war. Dass er unsere Sehnsucht nach Sinn, Glück, Gerechtigkeit, Frieden und erfüllten Beziehungen nicht ins Leere gehen lässt.
Für die Verstorbenen, derer wir heute gedenken, erhoffe ich, dass sie diesem Ziel bereits ein Stück näher sind.