Eine kleine Überraschung!
Eine kleine Überraschung muss sein! Das „Vater unser“ hört sich heute so ganz anders als – sonst. Hat sich der Evangelist Lukas vertan? Hat er etwas weggelassen? Schließlich sind wir, mehr oder weniger, doch mit dem „Vater unser“ groß geworden. In jedem Gottesdienst, in jeder Eucharistiefeier wird es gebetet, oft auch zu Hause, nicht einmal nur bei besonderen Gelegenheiten.
Auswendiggelernt haben wir es! Das „Vater unser“ ist so etwas wie ein Urgebet. Schön ist es zudem. Und ganz einfach. „Unser Vater“ – so viel Vertrauen, Offenheit und Nähe. In der Sprache Jesu heißt es: Papa! Lukas kann sogar auf den Himmel verzichten.
Eine Hand voll Gebet
Das Rätsel ist schnell aufgelöst. Das „Vater unser“, das uns so vertraut ist, hat der Evangelist Matthäus überliefert. Sein Zeitgenosse Lukas – gekannt haben sich die beiden wohl nicht – hat uns eine andere, kürzere, fast schon konzentriertere Form weitergegeben. Natürlich: auch sie geht auf Jesus zurück. Lange, bevor der Brauch aufkam, alles schriftlich weiterzugeben, haben Menschen erzählt, was sie unbedingt bewahren und hüten wollten wie einen kostbaren Schatz. Die Worte wanderten von Mund zu Mund. Vielleicht ist die Form, die wir von Lukas haben, die erste, die ursprünglichere – wir müssen uns da nicht festlegen. Jedenfalls ist das „Vater unser“ bei ihm wie ein Gebet, das in eine Hand passt. An fünf Fingern lässt sich abzählen – und im Gedächtnis behalten -, was wir beten können:
Vater, dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen.
Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.
Und führe uns nicht in Versuchung.
Das „Vater unser“ passt in eine Hand, in meine Hand. Ein eher ungewöhnliches Bild, aber ein sehr beeindruckendes: Was mich hält, mein Leben, meine Träume, meine Schuld, das Brot und die Versuchung – wird mir in eine Hand gelegt. Eine Hand ist voll Gebet! Die andere Hand bleibt – frei.
Für das Brot, das ich teile. Für den Handschlag. Für die Hand der anderen …
Vater!
Angefangen hat alles so: Ein Jünger bittet Jesus um ein Gebet. Er hat Jesus im Gebet gesehen. Nur seine Worte hat er nicht gehört. Eine sehr bescheidene Szene. Kein große Lehre, kein dickes Buch, keine Wissenschaft. Nur: um ein Gebet wird gebeten.
Von den fünf Sätzen gehören zwei dem Vater und drei – uns. Oder umgekehrt? Die Gewichtung jedenfalls ist bemerkenswert.
Vater, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme! Alles was wir von Gott wissen, alles, was er uns von sich sagt, ist in seinem Namen beschlossen. Wir rufen ihn an, mit seinem heiligen Namen ist er unter uns gegenwärtig. Außer seinem Namen haben wir nichts. Seinen Namen haben wir auch nur, um ihn anzurufen. Verfügen können wir nicht über ihn. Sein Geheimnis bleibt für uns gewahrt. Ihn bitten wir: dein Reich komme. Es ist sein Reich, seine Heimat für uns.
Früher, und manchmal auch heute noch, meinen Menschen, Jesus habe das ganz neu formuliert. Das ist nicht so: Die Menschen, denen wir im Alten (oder besser: Ersten) Testament begegnen, haben immer um die Heiligkeit des Namens Gottes gewusst – und um sein Reich gebeten. In den jüdischen Liturgien ist dies bis heute aufbewahrt. Jesus ist auch in diesem Gebet Jude. Er schenkt uns diese Worte. Er vertraut uns diese Worte neu an. So rufen wir IHN an: Vater, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme!
Bitten, die aus unserem Leben kommen
Dann werden uns drei Bitten in den Mund gelegt, Bitten, die aus unserem Leben kommen: Wir bitten um das tägliche Brot. Brot ist dabei alles, was wir für unser Leben brauchen. Täglich. Die Arbeit gehört dazu, die Kleidung, das Wasser, die kleine Freude, das gute Wort. Wir brauchen nicht viel. Das erbitten wir. Selbstverständlich ist nicht einmal das Wenige, mit dem wir uns zufrieden geben könnten. Ich sehe ein Brot vor mir. Sein Geruch liegt mir in der Nase. Ich fühle es in meinen Händen. Größeres kann es kaum geben. Ich habe Hunger.
Was ich auch brauche, ist, mit meiner Schuld nicht alleine gelassen zu werden. Ich möchte Vergebung erfahren, ich möchte Vergebung gewähren. In jeder Vergebung liegt ein neuer Anfang – und das Glück, gerade jetzt nicht alleine gehen und alleine leben zu müssen. Gott möge mir meine Schuld vergeben, die Schuld, die mich von ihm trennt – die Schuld, die zwischen mir und anderen Menschen steht. Es ist die Bitte um Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist der Mutterschoß – sprachlich -, in dem Leben wächst und geborgen ist. Ohne skrupulös zu sein: Ich bleibe immer etwas schuldig.
Die letzte Bitte ist: Führe uns nicht in Versuchung. Das ist eine schwierige Bitte. Wir schauen auf die vielen Wege zurück, die wir in unseren Leben schon gegangen sind. Manchmal sind wir in unsere eigenen Abgründe geraten. Wir waren schwach. Wir versagten. Im Gottesdienst dürfen wir es sagen – draußen müssen wir immer die Rollen der Perfekten spielen. Führt Gott in Versuchung? Wir bitten ihn, uns nicht auf die Probe zu stellen. Wir bitten, er möge treu zu uns stehen. Ich bin noch nicht fertig. Mit mir nicht, mit den Menschen nicht, mit Gott auch nicht.
Dieses Gebet ist ein Geschenk
Dieses Gebet ist ein Geschenk! Ich zähle die Bitten in meiner Hand, in meinem Leben. Fünf sind es – sie reichen aus:
Vater, dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen.
Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.
Und führe uns nicht in Versuchung.
Das letzte Wort
Der Evangelist Lukas – übrigens – hat dieses Gebet in fünf Zeilen in einem besonderen Zusammenhang gesehen: es wird erhört! Ganz gewiss! Viele Fragen sind für uns offen, wenn wir an Gebete denken. Schon in den ältesten Gebeten – in den Psalmen – begegnet uns das „Warum“. Wenn ich dann keine Antwort finde, vernarbt der Zweifel. Er tut weh – immer, wenn sich das Wetter wendet. Wenn Vertrauen brüchig wird. Wenn ich mich in einer Tiefe finde. Aber das letzte Wort ergreift Jesus: Der Vater im Himmel wird denen den Heiligen Geist geben, die ihn bitten
Dann wird der heilige Name Gottes für uns zum Lebensquell,
dann werfen wir einen Blick in den Himmel,
dann teilen wir das Brot,
dann können wir einander vergeben,
dann sind wir glücklich – auf dem Prüfstand.
Ich höre mich sagen: Herr, lehre mich – beten.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.