Paradiesvorhalle
Wir öffnen jetzt einmal das Portal – und treten ein. Ein toller Eingang. Es ist die sogenannte Paradiesvorhalle. Wo wir jetzt sind? Im Magdeburger Dom, dem ältesten gotischen Dom auf deutschem Boden.
Schauen Sie einmal links: Lachende, fröhliche Mädchen. Schlank und zierlich. Hübsche Gewänder, schönes Haar, 5 an der Zahl. Mal ein wenig verschmitzt, dann aber auch triumphierend. Freude hat viele Gesichter. Der Steinmetz hat großartige Figuren geschaffen, die uns heute den Weg in die Kirche säumen. Sie wissen, wer die 5 Mädchen sind? Die klugen Jungfrauen.
Schauen Sie dann einmal rechts: Traurige, verweinte Gesichter. Die Schönheit der Mädchen ist nicht zu verkennen. Aber ihre Gesichter! Wie die aussehen! Eine fasst sich an den Kopf wie geschlagen. Eine andere zieht ihr Gewand hoch, um die Tränen zu trocknen. Ein Bild des Jammers. Doch der Künstler hat großartige Figuren geschaffen, die uns heute den Weg in die Kirche säumen. Sie ahnen es längst: auf dieser Seite sind es die 5 törichten Jungfrauen.
Die klugen und törichten Jungfrauen – sagen wir ruhig: Mädchen – stehen einander gegenüber. Doch, die eine schaut rüber. Ansonsten sind sie getrennt. Hier nimmt niemand die andere in den Arm. Es fällt auch kein Wort. Ich spüre die Trostlosigkeit. Inzwischen sind Jahrhunderte vergangen. Mit Wind und Wetter. Doch hübsch sind sie, die 10 Mädchen. Zum Verlieben schön.
Merkwürdig: Lachende junge Mädchen sind nichts Ungewöhnliches. Das passt auch zu der Geschichte. Brautjungfern. Klar doch, sie freuen sich. Es ist so schön, sie schon im Eingang zu sehen. Aber die weinenden und klagenden Mädchen gegenüber rühren das Herz. Ich bleibe stehen. Ich fange an, mit ihnen zu reden. Es dauert nicht lange, dann fangen die Steine zu reden, zu leben an.
Zwiegespräche
Warum weinst du? Höre ich mich fragen. Zögerlich kommt die Antwort: Weißt du nicht, dass wir ausgesperrt sind? Erzähl, sage ich. Sie erzählt: 10 Brautjungfern waren wir. Wir haben uns sehr auf die Hochzeit gefreut. Die Braut kennen wir lange, sind mit ihr groß geworden. Aber der Bräutigam hat uns hereingelegt. Erst erscheint er nicht, dann kommt er mitten in der Nacht und wir haben kein Öl in den Lampen. Erst dachten wir, 5 Lampen reichen allemal, aber dann haben uns die anderen Mädchen bloßgestellt. Wir sollten sogar noch zu nachtschlafender Zeit zum Kiosk, um uns Öl zu besorgen! Mitten in der Nacht! Stell dir das vor! Als wir dann zurückkamen, ganz außer Atem, waren die Türen zu. Richtig zugeschlossen. Es half kein Klopfen, kein Hämmern. Warum nur hat uns die Braut so schnöde im Stich gelassen? Warum der Bräutigam? Warum unsere anderen fünf Gefährtinnen?
Ich muss wohl ein wenig verdutzt geschaut haben. Eine komische Geschichte. Ich gebe zu, das gedacht zu haben. Als ob sie meine Gedanken ahnt, sagt das Mädchen noch: Wir haben doch nichts Böses getan. Warum kommen wir nicht rein? Seit Jahrhunderten geht mir das durch den Kopf. Was haben wir getan? - Eine Antwort habe ich auch nicht. Die Trauer spüre ich wohl.
Als ich dann weitergehen will, spricht mich eines von den klugen Mädchen an. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Klug macht sich immer gut. Warum lässt du dich mit denen ein? Denen ist nicht zu helfen. Wer so dämlich ist, kein Öl für die Lampen zu haben, hätte gleich zu Hause bleiben können. Ich ziehe die Brauen hoch. So, sage ich. Zu wann war denn die Hochzeit angesetzt? Die Schöne denkt nach. Am Nachmittag. Warum fragst du? Und der Bräutigam kommt in der Nacht, frage ich zurück? Ihr wartet da wie bestellt und nicht abgeholt? Eine Stunde, 5 Stunden, fast einen Tag - bis Mitternacht? Wir hatten viel zu erzählen, die Zeit verging wie im Flug. Sagt das Mädchen. Wo habt ihr die Braut gelassen? War sie bei euch? Ist ihr die Zeit nicht lange geworden? Höre ich mich fragen. Aber schlau werde ich nicht aus dieser Geschichte. Von der Braut ist nicht die Rede, der Bräutigam kommt mitten in der Nacht – und die Brautjungfern entzweien sich. Wegen Öl! Oder war die Spannung vielleicht vorher schon da? Alte Geschichten, die endlich beglichen werden konnten? Das Mädchen lächelt einfach weiter. Die lächelt immer. Schön ist sie. Muss ich schon zugeben. Aber in der Paradiesvorhalle erwarte ich eine solche Geschichte nicht. Schrecklich. Auch schrecklich versteinert. So hoffnungslos. Und so aufdringlich.
Verpasstes Leben
Wenn ich schon in der Paradiesvorhalle auf meine Grenzen stoße, will ich jetzt wenigstens von Matthäus Aufklärung! Er hat die Geschichte aufgeschrieben, jetzt soll er sagen, was an ihr dran ist! Verbergen kann ich es nicht: Den weinenden und traurigen Mädchen gehört meine Sympathie! Ungerecht bin ich auch: Mit den lachenden und fröhlichen Mädchen kann ich mich nicht mitfreuen. Alberne Gänse! Entschuldigung. Nehme ich sofort zurück. Hab' ich was gesagt?
Im Gespräch mit Matthäus, von Beruf Evangelist – also Schriftsteller mit höheren Weihen – wird mir dann aber doch angst und bange. Was ihr in euren Kirchen darstellt und welche Gesichter ihr welchen Menschen gebt, dafür kann ich nichts. Aber dass Menschen ihr Leben verpassen können, dass Menschen Gott verpassen können, willst du sicher nicht in Abrede stellen? Fragt er mich. Ist das eine Suggestivfrage? Frage ich zurück. Die mag ich nicht. Aber Matthäus bleibt unbeirrt. Jesus hat mit dieser Geschichte, ausdrücklich steht „Gleichnis“ darüber, erzählt, dass wir Menschen etwas zu „spät“ merken. Wir merken zu spät, was uns Glauben und Vertrauen schenkt, wir merken zu spät, was in unserem Leben eigentlich wichtig ist, wir merken zu spät, wenn wir uns verlaufen. Da passt doch das Bild mit der Nacht! Sagt Matthäus. Er hat Jesu Wort im Ohr. Im Herzen. Wenn der Bräutigam, um in der Geschichte zu bleiben, so spät kommt, hattet ihr doch Zeit. Zeit, Gelegenheiten, Anlässe, euer Leben zu bedenken, zu ordnen, neu auszurichten. Das Warten auf den Bräutigam ist doch keine verlorene Zeit. Es ist – Gnade!
Mir gehen die Gedanken durch den Kopf. Während ich dem Bräutigam den Vorwurf machen möchte, unverschämt zu spät zu kommen, erzählt er mir, dass er früher nicht kommen kann. Meinetwillen! Nicht seinetwegen! Ob das Bild von der Hochzeit Bild meines Lebens ist? Ich warte auf Gott, ich warte sehnsüchtig auf Gott – wie eine Braut, wie die Brautjungfern -, aber Gott wartet gleichzeitig auf mich. Sehnsüchtig, wie nur Liebe Sehnsucht schafft. Sehnsüchtig, wie nur Liebe Sehnsucht schenkt. Ich warte auf ein erfülltes Leben, auf ein gutes Gespräch, eine liebevolle Begegnung, eine treue Beziehung, aber andere Menschen warten auf mich. Sie suchen mein offenes Gesicht, Augen, die zwischen den Zeilen lesen können, Ohren, die die feinen Töne dazwischen wahrnehmen und zu schätzen wissen. Sie suchen mein Herz – nicht meine Abgründe.
Vielleicht muss ich doch noch meinen Tag auskosten, um in der Nacht Gott zu finden. Oder mich von ihm finden zu lassen. Wann verpasse ich mein Leben? Wann verpasse ich einen anderen Menschen? Wann verpasse ich die einmalige Gelegenheit, den Sinn, den Umfang, die Schönheit meines Lebens zu entdecken – ein für alle Mal? Ich höre: Der Bräutigam kommt! Aber obwohl ich nichts anderes wünsche, bin ich nicht nur überrascht – ich bin nicht fertig. Ich kann machen was ich will – ich bin nicht fertig! Das kann ja schön werden! Denke ich. Komme ich jetzt auch auf den Sockel in der Paradiesvorhalle? Vorsichtshalber krame ich schon einmal das Taschentuch heraus. Ob es sauber ist? Nicht auszudenken, was die vielen Besucher von mir zu sehen bekommen. Paradiesvorhalle! Über dieses Wort komme ich nicht weg. Hölle passt besser.
Lampen
Kommt ihr mit? Wir gehen noch einmal in die Paradiesvorhalle. Vorhin haben wir uns nur die Gesichter angeschaut. Fröhliche, lachende – weinende, klagende. Schauen wir uns doch auch die Hände an! Sie tragen – Öllampen. Lampen. Lampen machen es hell, wenn es dunkel ist. Lampen machen einen Weg sichtbar, wenn sich im Wind die Gespenster bewegen. Lampen schenken Sicherheit, wenn um mich herum nur die Schatten flackern. Die klugen Mädchen haben Lampen und Öl, die törichten nur die Lampen. In Stein gehauen, haben die Gefäße ein Eigenleben bekommen. Die törichten Mädchen haben Lampen, aber kein Licht. Kraftlos halten sie leere Gefäße in der Hand. Einige scheinen sogar zu fallen. Es ist nichts drin. Kein Öl. Kein Leben.
Das Mädchen, das mir vorhin ihr Leid geklagt hat, hält mir ihre leere Lampe entgegen. Aber an diesem Ort wächst eine Hoffnung. Ein lachendes Gesicht steigt vom Sockel, umarmt das traurige – und ohne große Worte wird das Öl geteilt. 10 Lampen leuchten schöner als 5, 10 Lampen machen die Welt heller als 5, 10 Lampen stehen für eine große Hoffnung, 5 nur für eine Klage.
Im Evangelium wird uns zweierlei geschenkt: Eine Lampe – und das Öl.
Und Matthäus? Der nickt. Lies, sagt er. Und ich lese: „So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“
Wo das wohl steht? In der Bergpredigt! Es ist die erste Predigt Jesu – es kann auch die letzte sein.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Wer die Bilder zu der Predigt anschauen möchte, findet sie unter:
www.brunnenturmfigur.de/index.php;