Die Stunde ist gekommen! Es hört sich erwartungsvoll an, nicht ängstlich, fast schon wie: endlich! Nur: Welche Stunde? Eine große Spannung macht sich breit. In seinem Jüngerkreis spricht Jesus von seinem Tod. Aber das Entsetzen ist, als Johannes das Evangelium schreibt, schon einer großen Freude gewichen. Es fällt das Wort: Verherrlichung. Ein großes Wort für einen erbärmlichen Weg - oder aber: ein erbärmlicher Weg in einem besonderen Glanz. Gott hat Jesus groß gemacht. In einem urchristlichen Hymnus heißt es: Gott hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist - und alle werden ihn "Herr", Kyrios, nennen. So, wie wir das heute auch tun. Voller Hoffnung und Zärtlichkeit. Die Stunde ist gekommen. Ich bin dabei.
Korn
Wollen wir diese Stunde beschreiben - oder erzählen - stoßen wir auf ein Bild, das Jesus benutzt: Jesus vergleicht sich mit einem Korn, das in die Erde fällt, stirbt und reiche Frucht bringt. Ein Bild aus der Natur, erstaunlich genug und immer wieder einem Wunder gleich. Wie das Leben aus dem Tod herauswächst, wie ein Korn zur Keimzelle wird - das besingt auch Jürgen Henkys in einem Lied, das im Jahr 1976 veröffentlicht wurde:
Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt,
Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt -
Liebe lebt auf, die längst erstorben schien:
Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.
Das ist die erste Strophe. Der Dichter spielt mit den Worten Korn und Keim. Während das Korn in den Tod versinkt, dringt der Keim in den Morgen. Wir sehen das junge Grün, den kleinen Halm, die volle Ähre. Ohne große Worte: ein Bild für Leben. Es bricht aus dem Boden heraus. Auch aus dem harten, niedergetretenen, zerfurchten Boden. Der Dichter sieht etwas, was eigentlich alle sehen können: Liebe lebt auf, die längst erstorben schien. Und dann als Refrain: Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün. Uns werden Worte geschenkt, in denen unsere eigenen Erfahrungen auf einmal in ein neues Licht geraten. Wir wissen doch, wie Liebe erstirbt - und wir sehen sie aufgehen. Wir wissen doch, wie zerbrechlich Hoffnungen sind - und wir sehen sie grünen.
Verwundert frage ich zurück: Ein Korn, ein Keim? Ja, um das Geheimnis der Liebe Gottes zu verstehen, reicht ein Korn, ein Keim ...
Jürgen Henkys schreibt dann in der zweiten Strophe:
Über Gottes Liebe brach die Welt den Stab,
wälzte ihren Felsen vor der Liebe Grab.
Jesus ist tot. Wie sollte er noch fliehn?
Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün
In dem Lied wird nicht angeklagt, nur beschrieben: Über Gottes Liebe bracht die Welt den Stab.
Wurde einst ein Stab gebrochen, galt das als endgültiges, letztes "Aus". Ein Urteil ohne Worte, ohne Begründung, ohne Rechtsmittel. "Aus". Nicht Gott bricht den Stab - über ihn wird der Stab gebrochen. Bis heute. Unschwer zu erraten, was geschieht: Jesus wird verurteilt, hingerichtet, hinter einem schweren Stein beigesetzt. Mit den Worten des Liedes: Die Liebe verschwindet hinter, unter einem Felsen. Gerollt, gewälzt von Menschen. In der Art, mit der Hybris der Titanen. Ich weiß doch, wie hart Hass ist, unerbittlich, übermenschlich! Unglaublich, Liebe unter einem, hinter einem Felsen zu begraben - und ihn von dort nicht mehr wegzubekommen. Felsen sind übermächtig, hart, nicht zu bewegen. Jesus kann nicht mehr fliehen. Im Tod nicht, auch nicht im Leben. Aber - dann kommt wieder der Refrain: Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün. Was keiner für möglich hält: Die Liebe wird den Felsen - aufbrechen. Ihn immer kleiner machen. Zerbrechlich. Klein.
In der dritten, in der letzten Strophe heißt es:
Im Gestein verloren Gottes Samenkorn,
unser Herz gefangen in Gestrüpp und Dorn -
hin ging die Nacht, der dritte Tag erschien:
Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.
Hieß es in der ersten Strophe: "Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt", wird jetzt der Blick auf das Samenkorn gelenkt, dass im Gestein verloren geht. Das ist eine andere Erfahrung als die, dass das Korn in der Erde stirbt und dann aufgeht und Frucht bringt. Es ist die Erfahrung, die im Lied mit dem Bild des gefangenen Herzens "in Gestrüpp und Dorn" einhergeht. Viele Gedanken mache ich mir darüber eigentlich nicht, aber manchmal spüre ich diese große - Enge und Verlorenheit. Ich spüre sie auch in mir. Ich träume von Freiheit - aber ich bin nicht frei. Ich träume von schönen Blüten - aber es gibt nur Gestrüpp und Dornen. Manchmal schäme ich mich, dass ich verletze, Wunden reiße, aber auch unzugänglich und verschlossen bin. In dem Lied ist von der Nacht die Rede. Aber: sie geht hin. Es tagt. Der dritte Tag erschien. Ostern. Dann wieder der Refrain: Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün. Es ist, als ob ER mich, uns, dem Gestrüpp und den Dornen entwindet. Wo Dornen waren: Weizen. Wo Dornen waren: Liebe.
Auffällig ist in diesem Lied schon, dass der harten Erde, dem übermächtigen Felsen und dem dornigen Gestrüpp ein Halm gegenübergestellt wird. Grün. Voller Leben. Uns wird eine Zukunft angesagt - Gottes Zukunft. Liebe ist nur ein anderes Wort für sie. Die Stunde ist gekommen!
Die Stunde - eines Korns. Eines Halms. Es ist eine große Stunde!
Jetzt
Schauen wir noch einmal in unser Evangelium. Jesus spricht nicht nur von seiner Stunde - er sagt sogar: Jetzt! - Gleich dreimal!
- Jetzt ist meine Seele erschüttert.
- Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt;
- Jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden.
Also: nicht morgen, nicht irgendwann. Jetzt. Ich werde stutzig. Jetzt? Was heißt dieses "Jetzt"?
Die große Überraschung: was dieses Wort meint. Jetzt, heute. Heute hören wir das Evangelium, heute begegnet uns Jesus, in seinem Wort, in seinem Mahl, heute geht uns seine "Stunde" auf.
Für den Evangelisten Johannes ist die Welt ein Raum, der Raum, in dem der, die Widersacher Gottes ihr Unwesen treiben, Hoffnungen zunichte machen, eine Bosheit nach der anderen platzieren. Widergöttlich eben. Aber Johannes überliefert auch Jesu Wort, dass Gott die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen Sohn gegeben hat, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben. Das meint: jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt. Jetzt. Immer dann, wenn Gottes Liebe gesagt, gelebt, erwidert wird. Um im Bild zu bleiben: der Herrscher dieser Welt wird hinausgeworfen. Jetzt. Jetzt ist uns Gottes Liebe nahe, so nahe, dass Felsen aufbrechen und Dornen zu blühen anfangen.
Werner Bergengruen hat diesen weiten Blick in Worten eingefangen:
Herr Christ will Ostern auferstehen. /
Heute wollen wir auf den Acker gehen.
Wir säen, wir säen auf viererlei Feld, /
morgen ist Ostern in aller Welt. / Kyrieleis
Welcher dereinst die Garben mäht, /
ward als Korn in den Boden gesät.
Wie Jesus Christus auferstund, /
breche das Korn aus dem Erdengrund. / Kyrieleis
Wir haben die Saat in den Acker gestreut. /
Jesus Christus gestern und heut.
Er gebe uns gute Erntezeit, /
und brech' uns das Brot in Ewigkeit. / Kyrieleis
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.