"Jubelruf" - "Heilandsruf"
Das Evangelium vom heutigen Sonntag setzt sich aus zwei Redeabschnitten zusammen. Der erste ist der "Jubelruf" Jesu, der zweite sein "Heilandsruf". So hat man diese beiden Textgruppen genannt.
Man hat ihn so genannt, weil Jesus, gemäß der Parallele bei Lukas, "vom heiligen Geist erfüllt voll Freude ausruft" - seinen Vater preisend: "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen" (Mt 11, 25 f.). Mit dem "all das", was geoffenbart wurde, ist die Botschaft vom Reiche Gottes gemeint, die Jesus verkündet hat. Die Botschaft von einem rettenden und liebenden Gott. Verborgen blieb dies den "Klugen und Weisen", den damaligen Schriftgelehrten und Theologen, den geistlichen Führern Israels. Offenkundig hingegen wurde die Heilsbotschaft Jesu den "Unmündigen"; denjenigen, die über keine exegetischen, wissenschaftlichen Schriftkenntnisse, über keine theologische Gelehrsamkeit verfügten.
Erfahrungsglaube
Wie wurde denn ihnen, den ungelehrten Menschen "all das" offenbar? Diese gute Botschaft vom erlösenden Tun Gottes? Es war der Weg über die Erfahrung, die sie mit Jesus gemacht hatten. Seine Art, den Menschen zu begegnen, war das Buch, in dem sie lesen konnten. Seine Person war für sie, nach einem Wort des hl. Hieronymus, die "viva vox evangelii", die lebendige Stimme des Evangeliums. Wir mögen uns noch so sehr in der Bibel auskennen oder in der Glaubenstradition der Kirche, dies alles bliebe für uns vergeblich, würden wir nicht in die lebendige Beziehung zu Jesus eintreten. Nicht ein Wissensglaube, sondern ein Erfahrungsglaube lässt uns den Zugang finden zu dem Gott, der sich in Jesus erschließt als ein "Gott mit uns", ein Gott ganz nahe bei uns. Der Glaube an diesen Gott in Jesus lässt uns den Schlüssel finden zu dem, was wir Biblische Offenbarung nennen. Diese will keine Erkenntnisse über Gott mitteilen. Vielmehr ist in ihr offenbar geworden, wie Gott sich uns mitteilt.
Gelehrsamkeit
Die Schriftgelehrten zur Zeit Jesu achteten mit Argusaugen darauf, ob Jesus "das Gesetz und die Propheten", womit das ganze Alte Testament gemeint war, auch richtig auslegte. Auf diese Weise konnten sie keinen Zugang zu ihm als dem Messias und Erlöser finden. Die "Unmündigen" hingegen - man könnte auch sagen: die in der Bibelwissenschaft Unkundigen - suchten Jesus zu begegnen, suchten eine Beziehung zu ihm zu finden. Und in der Begegnung mit ihm sahen sie Gott selbst am Werk. Rettend, erlösend, heilend. Diese im guten Sinne "Einfältigen", diese einfachen Menschen kamen, anders als die in ihrer Frömmigkeit leistungsbetonten Pharisäer, mit leeren Händen zu Jesus. Es waren diejenigen die vor Gott arm sind. Sie preist Jesus selig. Sie erfuhren sich als hilfsbedürftige Menschen. Sie öffneten ihr Herz und ließen sich von Jesus mit der Liebe Gottes beschenken. Sie erlebten Jesus als jemanden, der sie nicht mit großen Worten klein macht, der keine heilige Überlegenheit herauskehrt, der sie nicht mit Vollkommenheit erdrückt. Einer von ihnen - und doch von woanders kommend. Der Menschenfreundlichste aller Menschen - aber in ihm eine Kraft, die nicht aus den Menschen stammen kann. Sie ahnten: In Jesus muss auf eine einzigartige Weise Gott gegenwärtig und wirksam sein.
Wie erfahre ich die heilende Nähe Jesu? Sicher nicht über den Weg der Gelehrsamkeit und theologischer Wahrheiten. Wir bleiben immer unmündig, was das Wissen über Gott angeht. Damals wie heute gibt es nur einen einzig wirksamen Zugang zu ihm: Mich ihm vertrauend anheimzugeben. So darf auch ich einstimmen in das Gebet Jesu: "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, aber den Unmündigen" - mir Unmündigem - "offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen."
Das leichte Joch Jesu
Dem "Jubelruf" schließt sich der "Heilandsruf" Jesu an: "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht." Was ist das für ein Joch, das leicht sein soll? Jesus spricht von "seinem Joch" und setzt es ab vom Joch der Thora, dem Joch des Gesetzes; oder besser: der vielen Gesetze der spätjüdischen Zeit, unter deren Last die Menschen niedergedrückt wurden.
Die rabbinischen Schriften enthielten, so hat man ausgerechnet, 248 Gebote und 365 Verbote. Diese unterlagen einer komplizierten Auslegung, die sich die Schriftkundigen und diejenigen, die sich im Gesetz auskannten, vorbehielten. Das unmündige Volk dagegen wurde von ihnen als gesetzesunkundig verachtet. Sie ließen die Menschen allein mit den Lasten, die sie ihm aufbürdeten. Jesus hingegen führt das ganze Gesetz auf die Gottes- und Nächsten liebe zurück. Wenn diese Liebe auch kein Joch bedeutet, so ist sie doch das Allerschwerste, was es zu leben gilt. Dennoch kann es schrittweise gelebt werden, wenn wir auf Jesus schauen.
Innerer Friede
Sein Joch, sagt er, ist leicht. Wir können das nur so verstehen, dass wir ihm auf seinem Weg folgen, ihm nachzufolgen versuchen. In seiner Güte, in seiner Sanftmut, in seiner Geduld. Dies lässt uns in unserem Herzen Ruhe finden. Diese Ruhe bedeutet nicht, die Augen zu verschließen vor der menschlichen Wirklichkeit, die von Leiden mannigfacher Art gezeichnet ist. In der großen Welt und in unserer persönlichen Lebenswelt. Der Friede, den Jesus verheißt, bedeutet nicht Himmelsseligkeit. Um diesen Frieden zu erlangen, sind wir auf Jesus verwiesen, auf seinen Lebensweg und auch auf seinen Leidensweg. Der Evangelist Matthäus hat ein Wort des Propheten Jesaja auf Jesus angewandt: "Er hat unsere Leiden auf sich genommen, all unsere Krankheiten hat er getragen" (Mt 8,17).
Wenn wir uns - jeder auf seinem Lebensweg und mit seinem Lebensschicksal - auf den Weg Jesu einlassen, dann können wir in der Weggemeinschaft mit ihm das Vertrauen gewinnen, dass wir bei allem, was uns widerfahren mag, von Gottes Liebe umfangen sind. Dies schenkt uns den von Jesus verheißenen inneren Frieden. Das Joch Jesu drückt nicht zu Boden. Jesus befreit uns von moralischem Leistungsdruck, auch von Sündenangst. Lassen wir uns diesen inneren Frieden von Jesus schenken.
Hören wir jetzt noch einmal den "Heilandsruf" Jesu, ganz persönlich an jeden von uns gerichtet: "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin gütig uns von Herzen demütig. So werdet ihr in eurem Innern Ruhe finden, denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht."
Norbert Riebartsch (2008)
Maria Wachtler (2002)
Johann Pock (1999)