suspekt
Wenn jemand sagt, dass er einen bestimmten Menschen "wie die Pest meidet", dann brandmarkt er ihn auf schlimme Weise. Er möchte ihn von sich fernhalten, so wie man sich einen von der Pest oder vom Aussatz befallenen Menschen vom Leibe hält. Menschen, die mit einer ansteckenden Krankheit behaftet waren, hat man ja immer gemieden. Sie sind ausgegrenzt, abgeschoben worden in die Randzonen der Gesellschaft. Denken wir an die Leprosenspitäler des Mittelalters, die außerhalb der Wohngebiete lagen. Verständlich ist eine solche Vorsorge, wenn man damit beabsichtigt, dass die Krankheit nicht weiter um sich greift. Ganz anders sieht das jedoch aus, wenn man vom Aussatz befallene Menschen in moralischer Hinsicht für suspekt hält und sie deswegen von den übrigen Menschen isoliert werden. So war es in vielen alten Kulturen und Religionen, auch in Israel.
Gemäß dem Mosaischen Gesetz galten Aussätzige als unrein, was auch kultische Unreinheit bedeutete. Darum mussten sie abgesondert leben. Man sah die kultische und religiöse Ausgrenzung der Aussätzigen als von Gott selbst angeordnet. "Der Herr sprach zu Mose und Aaron: Wenn sich auf der Haut eines Menschen eine Schwellung, ein Ausschlag oder ein heller Fleck bildet, liegt Verdacht auf Hautaussatz vor. Man soll ihn zum Priester Aaron oder zu einem seiner Söhne, den Priestern führen. Der Priester soll ihn untersuchen. Stellt er eine Schwellung fest, die wie Aussatz aussieht, so ist der Mensch aussätzig; er ist unrein. Der Priester muss ihn für unrein erklären. Der Aussätzige, der von diesem Übel betroffen ist, soll eingerissene Kleider tragen und das Kopfhaar ungepflegt lassen; er soll den Schnurrbart verhüllen und ausrufen: 'Unrein! Unrein!' Solange das Übel besteht, bleibt er unrein; er ist unrein. Er soll abgesondert wohnen, außerhalb des Lagers soll er sich aufhalten" (Lev 13).
Gewiss wollte man damit einer möglichen Epidemie Einhalt gebieten. Doch vor allem ging es darum, sich von den mit einem moralischen Makel behafteten Menschen abzuschirmen. Nach dem damaligen Verständnis war nämlich das äußere Krankheitsbild nur ein Spiegelbild des von der Sünde befallenen Menschen. Besonders der Aussatz, der den Menschen dermaßen verunstaltete, ließ schließen auf das im Menschen wuchernde Böse.
Abstand
Mit einem solchen Menschen, vom Aussatz befallen, verwildert aussehend, mit zerrissenen Kleidern und ungepflegtem Haar, kommt Jesus in engere Berührung. Wie es der Evangelist Markus berichtet, geht der Aussätzige auf Jesus zu und bittet ihn um Hilfe. Er fällt vor ihm auf die Knie und sagt. "Wenn du willst, kannst du machen, dass ich rein werde." Was hat da der Aussätzige gewagt! Wir hören nichts davon, dass er vorher Jesus mit einem "Unrein, unrein!" vor sich gewarnt hat. Vielleicht konnte er diesen Mut aufbringen, weil es ihm irgendwie zu Ohren gekommen war, dass Jesus nie einen Menschen abgewiesen hat, der ihn um Hilfe anrief. Und dass Jesus es vermochte, Menschen von Krankheiten zu heilen. Denn sonst hätte er nicht zu Jesus gesagt: "Wenn du willst, kannst du mich rein machen". Anders der Vater eines von einem unreinen Geist besessenen Jungen, der zu Jesus sagt: "Wenn du kannst, hilf uns; hab Mitleid mit uns!" (Mk 9, 22). Nein, der Aussätzige sagt: Du kannst es - Du brauchst es nur zu wollen. Er zweifelt also nicht an der Jesus zugeschriebenen Fähigkeit, Kranke zu heilen.
Da streckt Jesus, von Mitleid gerührt, seine Hand aus, berührt den Aussätzigen und sagt zu ihm: "Ich will es - werde rein!" (Mk 1, 11). Jesus lädt es nicht bei einem Heilungswort bewenden. Er verbindet das heilende Wort mit einem sinnfälligen Zeichen. Jesus scheut nicht davor zurück, den Aussätzigen zu berühren, womit er nach dem Mosaischen Gesetz selber unrein geworden wäre. Nachdem "im gleichen Augenblick", wie es heißt, der Aussatz verschwand und damit der Mann rein geworden war, sagt er dem vom Aussatz Geheilten, er solle sich dem Priester zeigen. Denn nur ein Priester, wiederum nach dem Gesetz, war imstande, so wie er einen Menschen für unrein erklärt hatte, nun auch die Reinheit zu diagnostizieren. Jesus, der von den Gesetzeswächtern immer wieder dem Verdacht ausgesetzt war, das Mosaische Gesetz zu brechen, hält sich diesmal an die gesetzliche Vorschrift. Er will auf diese Weise dem vom Aussatz geheilten Menschen die Möglichkeit verschaffen, sich wieder unter die Menschen zu wagen, in seine Familien- und Dorfgemeinschaft zurückzukehren.
Keine Berührungsängste
In dieser Heilungsgeschichte spricht mich vor allem die Art an, wie Jesus dem von einer Ekel erregenden Krankheit befallenen Menschen begegnet. Jesus kennt keine Berührungsängste, hat keine Angst, sich selber unrein zu machen. Damit setzt sich Jesus über religiös verordnete Schranken hinweg, über kultische Ausgrenzung. Auch die gesetzlich vorgeschriebenen Reinigungsriten entlarvt Jesus als ein veräußerlichtes Gesetzesdenken, als ein Buchstabendenken, mit dem man sich selber etwas vormacht oder rein waschen will.
Einigen von Jerusalem gekommenen Schriftgelehrten und Pharisäern hat er einmal folgendes zu verstehen gegeben: "Hört mir alle zu und begreift, was ich sage: Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein . . . Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier , Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein" (Mk 7, 14f. u.21-23).
In der Aufforderung Jesu, der Aussätzige solle sich den Priestern zeigen, sieht Eugen Drewermann so etwas wie einen "gehorsamen Aufstand". "Denn was die Priester hier sehen werden, wenn sie den ehedem Aussätzigen im Tempel mustern, wird ein einziger Beweis ihrer Ohnmacht sein und, denken sie näher nach, ein Exempel ihrer eigenen Schuld. Denn wenn es möglich ist, dass sogar die Grenzen sich auftun, die die scheinbar Gesunden von den Kranken, die Reinen von den Unreinen, die Mitdazugehörigen von den Ausgesetzten trennen, dann ist die Machtsphäre Gottes größer als die seines Tempels, dann ist der Raum seiner Heiligkeit weit umfassender, als die Machtsphäre der priesterlichen Religionsverwaltung, dann ist Jesus in einer Art priesterlich, die keinerlei Absonderung und Abgrenzung mehr zulässt." (in: Und er legte ihnen die Hände auf - Predigten über die Wunder Jesu, Patmos 1993, S. 15).
Keiner ist ohne Sünde
Jeder ist auf seine Art heilungsbedürftig. Ich vermute, dass der Aussätzige nicht frei war vom Bösen. Nur darf man nicht von der Krankheit, vom Aussatz, darauf schließen. Wer ist frei vom Bösen? Darum möchte ich mich nicht auf die Seite derer stellen, die sich aufgrund rigoroser Gesetzeserfüllung als rein und unschuldig gebärden. Die Schranken, die wir aufgerichtet haben zwischen sündigen Menschen und vermeintlich Guten, will Jesus durchbrechen. Und er durchbricht sie gerade dadurch, dass er niemanden von seiner Liebe ausschließt und alle heilen will, die seinem Leben spendenden Wort glauben und sich seinen heilenden Händen anvertrauen.
Keiner von uns ist ohne Sünde. Deshalb werden wir keinen Stein auf einen Menschen werfen, der in Schuld gefallen ist. Und sicher werden wir keinen Menschen meiden wie die Pest, als wäre er ein Aussätziger. Aber vielleicht ist es manchmal doch so, dass ich einem bestimmten Menschen lieber aus dem Weg gehe, nichts mit ihm zu tun haben möchte. Oft sind es ja auch nur Kleinigkeiten, an denen ich mich stoße und dann "einen Stein werfe". Bin ich denn so viel besser? Der behutsame und einfühlsame Umgang mit dem andern in seinen Schwächen, die Achtung vor ihm, kann heilend auf mich selber wirken. Von Jesus kann ich lernen, wie er mit denen umgegangen ist, die ich so leicht abschreibe. Von ihm kann ich lernen, wie er Menschen berührte, sie heil und gesund machte. Zu ihm darf auch ich kommen mit all dem, was noch krank in mir ist. Jesus wird es heilen.
Hans Hütter (2000)