Stimmen
Plötzlich steht ein Fremder im Schlafzimmer. Plötzlich wird eine fremde Stimme im Rücken laut. Plötzlich ist alles anders … So könnte ein Krimi anfangen. Oder eine story nach Mitternacht. So oder so: die Vorstellung ist grausig und unheimlich. Da loben wir die Tür. Sie lässt Menschen hinein. Sie lässt sich aber auch schließen. Sogar vor der Nase zuschlagen.
Jesus kommt - durch die Tür. Er braucht keinen Hintereingang, er kommt auch nicht durchs Fenster. Seine Stimme ist so vertraut und Vertrauen erweckend, dass die Angst keinen Platz mehr hat. Die Sorge auch nicht. Was Johannes erzählt, ist zwar nach außen hin eine Stallgeschichte, bei genauem Zusehen aber eine fast zärtliche Geschichte von Nähe und Vertrauen. Da sehen wir Schafe, die auf Jesus warten, sich von ihm führen lassen, ihm folgen. Zugegeben: das Bild verunsichert, ist aber ungemein treffend - und schön. Denn in dieser Geschichte wird von einem Weg erzählt, der nicht getrübt wird. Der auch in Schluchten gut zu gehen ist. Seit alten Zeiten wird Jesus als guter Hirte dargestellt, die Kirche als seine Herde. Um es gleich vorweg zu sagen: dem Geheul der Wölfe leiht der Evangelist nicht ein Ohr.
Überhaupt: Es ist soviel Mut in diesen Worten:
"Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen." Ich könnte sagen: schön wär’s. Aber ich teile lieber das Vertrauen, dass sich in diesen Worten ausdrückt. Menschen wissen, mit wem sie gehen können, sie wissen auch, wer sie missbraucht. Ihr Vertrauen missbraucht. Ihre Angst. Ihre Sehnsucht. Die Diebe, die sich von hinten anschleichen oder ganz schnell nach der Tasche greifen, sind zwar nicht ausgestorben, aber jede Abzocke im Internet, jede Endlosschleife im Fernseh-Telefon, jedes Produkt, das Glück verspricht, ist geraubte Hoffnung. Eine fremde Stimme. Die fremde Stimme. So viel Deutlichkeit, so viel Abgrenzung muss sein. Jesus sagt: "Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben."
Leben in Fülle
Wie abenteuerlich - und geheimnisvoll - es ist, von der Fülle des Lebens zu reden, erzählt der französische Schriftsteller Alphonse Daudet in der Geschichte Die Ziege des Herrn Seguin. Sechs Ziegen hat ihm der Wolf schon gerissen, die siebente - an ihr hat er sein Herz verloren - will er um jeden Preis bewahren. Aber die Geschichte nimmt eine unerwartete Wendung. Der Ziege schmeckt das Gras nicht mehr im Pferch, sie träumt von fetten Weiden, von den Bergen - dahinten. Sie wird krank, krank vor Sehnsucht nach Freiheit.
Aber hören sie selbst: "Herr Seguin führte die Ziege in einen dunklen Stall und verschloss die Tür zweifach. Doch hatte er vergessen, das Fenster zu schließen, und kaum hatte er dem Stall den Rücken gekehrt, da war die kleine Ziege auf und davon.
Als die weiße Ziege in den Bergen anlangte, war sie von Entzücken ganz überwältigt. Sie wurde wie eine kleine Königin empfangen. Der ganze Berg feierte ihr Kommen.
Wie war unsere Ziege hier glücklich! Hier gab es kein Seil, keinen Pfahl, nichts hinderte sie, Luftsprünge zu machen! Sie sprang und rannte überallhin. Denn sie fürchtete sich vor nichts.
Einmal sah sie weit unter sich den Hof von Herrn Seguin.
"Wie das alles klein ist", sagte sie, "wie hab' ich es dort nur aushalten können!" - Du Arme! Weil sie so hoch oben war, kam sie sich so groß wie die ganze Welt vor! -
Auf einmal wehte ein kühler Wind. Es war Abend geworden.
"Schön", sagte die kleine Ziege und stand erstaunt still. Eine große Traurigkeit legte sich auf ihre Seele. Sie dachte an den Wolf. Im Tal unten ertönte ein Jagdhorn, sicherlich der gute Herr Seguin, der noch einen letzten Versuch machte. Die Schneeweiße hatte Lust heimzukehren. Aber sie wusste, dass sie dieses Leben nicht mehr ertragen könnte.
Die Ziege vernahm hinter sich im Laub ein Rascheln. Es war der Wolf."
Wollen Sie wirklich wissen, wie die Geschichte ausgeht? Die kleine Ziege kämpft verbissen um ihr Leben, aber am Morgen wird sie gefressen. Sie hat für die Fülle des Lebens auch den Tod in Kauf genommen. Für die Freiheit war sie bereit, das Leben zu geben.
Einfache, gar fromme Antworten verwehrt die Geschichte.
Viele Menschen haben den Traum, ihren Stricken und Fesseln zu entkommen, mit dem Leben bezahlt. Einst standen Sklaven auf, heute fordern Landlose in Lateinamerika ihr Recht, Arme wollen in Nussschalen Meere und Grenzen bezwingen. Andererseits haben
viele Menschen im Kampf um Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit auf eine sichere Karriere verzichtet, wurden im Namen des Volkes zum Tode verurteilt, als Nestbeschmutzer diffamiert. Einige werden heilig gesprochen, die meisten bleiben namenlos. Von ihrem Mut aber zehren Menschen, wenn sie den Aufbruch wagen.
Die kleine Ziege von Monsieur Seguin… sie nahm es mit dem Wolf auf! Mit dem Wolf!
Eine offene Tür
Es ist gar nicht so einfach, in eigenen Worten zu sagen, was Leben in Fülle ist. Die klassischen Träume huschen durch die Seele: Geld, Ansehen, Erfolg. Aber sie werden Albträume: Ich muss immer mehr von ihnen haben, mich ihnen ausliefern, ihnen hinter her laufen - und werde doch nicht satt. Jesus sagt: "Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben."
Die schönsten Bilder dafür hat - lange vor Johannes - der 23. Psalm gefunden. In den Worten von Jürgen Henkys:
"Der mir vorangeht, seines Namens wegen,
führt mich auf rechtem Steg dem Ziel entgegen.
Ob ich auch wandre, wo die Schatten kauern,
durchs finstre Tal und zwischen starren Mauern:
Du bist bei mir! Dein Stab lässt sicher gehen.
Kein Unglück muss ich mehr allein bestehen.
Du deckst den Tisch, den Feinde mir missgönnen.
Du salbst mein Haupt, dass sie es sehen können.
Du schenkst mir ein, dass ich mich vor dir freue
und deinen Bund im Dank an dich erneue.
Die Güte wird, die Liebe um mich bleiben.
Aus deinem Haus darf niemand mich vertreiben."
Plötzlich sind die fremden Stimmen verstummt. Plötzlich ist alles anders. Ich sehe die offene Tür. Ich sehe Christus. Jetzt geht mir das Leben auf.