Spät geworden
Es ist an diesem Heiligen Abend spät geworden - oder früh. Es ist Nacht. Draußen. In unserer Kirche aber haben wir Kerzen angezündet. Sie verbreiten einen hellen Schein. Ihr Licht ist warm. Es ist schön, in der Nacht das Licht zu sehen. Aber um uns herum sehen wir das Dunkle. Im Dunkeln verschwindet so mancher Umriss. Auch so manches Gesicht. Wir singen Weihnachtslieder. Wir besingen die stille Nacht. Aber so ganz still ist es nicht einmal in uns. Manche Gedanken lassen sich nicht abstellen. Sie sind da. Vielleicht sogar drohend, verletzend, ohne Punkt und Komma. Es ist an diesem Heiligen Abend spät geworden - oder früh. Wir erwarten einen neuen Tag. Weihnachtstag.
Ein neuer Tag
In unseren Weihnachtsliedern wird immer wieder und mit vielen Wendungen das Licht besungen, das aufgeht. Ein neuer Tag beginnt, ein neuer Zeitabschnitt, ein neues Leben. Wir rechnen sogar die Jahrhunderte und unser eigenes Leben "nach Christi Geburt". Anno Domini: Jahr des Herren.
So singen wir heute Nacht von einem aufgehenden Licht, von Morgenglanz - und davon, dass es tagt. Wir können nachher sogar sehen, dass der Morgen graut. Am Horizont macht sich der Tag breit. Langsam. Unaufhaltsam. Wir können zuschauen. Den Mantel hochgezogen.
Jochen Klepper schreibt 1937 in einer für ihn sehr schweren Zeit - er hatte eine Jüdin geheiratet, die zwei Töchter mit in die Ehe brachte - ein "Weihnachtslied". So der schlichte Titel. Das Lied drückt ein großes Vertrauen aus. "Die Nacht ist vorgedrungen". Und:
"Und wer zur Nacht geweinet, der stimmet froh mit ein: der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein".
Angst und Pein. Vielleicht auch morgen. Ja. Aber es ist ein Übergang zu sehen. Altes wird zurückgelassen, Neues beginnt. Wir hören die Engel mit ihrer Botschaft, die alles hell macht, wir sehen die Hirten noch in der Nacht aufbrechen, wir sehen gar die Weisen aus dem Morgenland ziehen: Sie bringen die große Welt mit, Wissenschaft und Klugheit dazu.
Alles in Bewegung
So ist in dieser Nacht alles in Bewegung. Sogar der Himmel, sonst verschlossen und undurchdringlich, scheint die Lichtfülle nicht mehr bändigen zu können. Die Worte nicht,
auch die Hoffnungen nicht. Nein, in dieser Nacht können wir nicht in der Nacht bleiben.
1880 schreibt Emil Quandt:
Mit den Hirten will ich gehen,
meinen Heiland zu besehen,
meinen lieben heilgen Christ,
der für mich geboren ist.
Der Liederdichter, von Beruf Textilfabrikant, spricht von "meinem Heiland", "meinen lieben heilgen Christ" - und macht sich mit den Hirten auf den Weg. Nicht eine vergangene Geschichte wird erzählt oder besungen - es ist meine Geschichte. Mein Weg. Meine Aussicht: "der für mich geboren ist".
Das Zauberwort von Weihnachten ist: gehen. Ich will gehen. Zunächst eine ungewohnte Perspektive, sitzen wir Weihnachten doch über längere, womöglich lange Zeit, an reich gedeckten Tischen. Die Klage, zu viel gegessen, zu viel getrunken, zu viel gesessen zu haben, gleicht einem weihnachtlichen Ritual. Zumindest in den meisten unserer Kreise.
Gehen kommt dann geradezu einer Befreiung gleich.
In der zweiten Strophe lässt sich der Liederdichter Quandt von den Engeln anfeuern:
Mit den Engeln will ich singen,
Gott zur Ehre soll es klingen,
von dem Frieden, den er gibt,
jedem Herzen, das ihn liebt.
Es sind einfache Worte. In ihnen klingen die Worte der Engel, andererseits darf ich meine eigene Stimme, meine eigene Melodie finden. Mit meinem Herzen, das ihn liebt. Das ist dann mehr als ein Ritual, entzieht sich auch vorgegebener Formen. Mit den Engeln will ich singen! Ich!
Interessant ist das schon: Während im Weihnachtsevangelium zuerst die Engel singen und dann die Hirten gehen, hat der Liederdichter die Geschichte umgedreht. Zuerst kommt der Aufbruch, dann der Gesang. So sehr hier eine moderne Lebensauffassung sichtbar wird, so sehr wird auch betont, dass wir Zeugen eines Wunders sind.
In dem Weihnachtslied von Quandt heißt es:
Mit Maria will ich sinnen
Ganz verschwiegen und tief innen
über dem Geheimnis zart:
Gott im Fleisch geoffenbart.
Jetzt kommen wir als Menschen zur Ruhe. Haben wir nicht auch im Evangelium gehört, dass Maria "alle diese Worte in ihrem Herzen bewegte"? Alles, was sie gehört hat: von den Engel und von den Hirten. Jetzt darf ich mit Maria sinnen - oder: dem Geheimnis Gottes nachspüren, dass er sich als Mensch offenbart. Mein Fleisch, mein Blut. Der Dichter weiß, dass er mit menschlichen Worten an seine Grenzen kommt - er kann nur, "ganz verschwiegen und tief innen" Gott nahe kommen.
Und wieder einmal mehr: Mit Maria. Sie wird zu einer lieben Gefährtin. Zu meiner Gefährtin. Ich bin mit ihr zusammen. Darf, soll ich das als Weihnachtsgeschenk bezeichnen? Ein größeres wüsste ich jetzt nicht.
Überhaupt: Immer wieder heißt es in diesem Lied: mit. Mit den Hirten gehen. Mit den Engeln singen. Mit Maria sinnen. Es sind Worte, die auf vielfältige Weise Bewegungen nachzeichnen - meine Bewegung. Auch meine Bewegtheit. Ich bin bewegt. Ich werde bewegt. In dieser Nacht können wir nicht in der - Nacht bleiben. Nicht allein. Nicht jeder für sich. Mit den Hirten, mit den Engeln, mit Maria - miteinander gehen, singen und sinnen. Alles ist in Bewegung. So eine Nacht gibt es kein zweites Mal!
Komm, auch komm!
Es ist spät geworden. Oder früh. Manch einer schaut schon auf die Uhr. Hört er nicht bald auf? Ja, meine Predigt soll jetzt ein Ende haben. Das Geheimnis von Weihnachten feiern wir gleich in der Eucharistie. Eine große Danksagung! In dieser Nacht gedenken wir der Menschwerdung Gottes. Wir feiern seine Menschlichkeit. Wir freuen uns, dass er einer von uns geworden ist, unser "Gesell". Alle, die uns im Glauben vorausgegangen sind, feiern mit. Nicht nur Hirten und Engel.
Mit dir selber, mein Befreier,
will ich halten Weihnachtsfeier;
komm, ach komm ins Herz hinein,
laß es deine Krippe sein.
Frohe und gesegnete Weihnachten!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus
unserem Herrn.