Mit vollen Händen
"Ich steh' vor dir mit leeren Händen, Herr..." singen wir manchmal in einem Kirchenlied des 20. Jahrhunderts. In einem gewissen Sinn stimmt das auch. Trotzdem ertappe ich mich immer wieder bei einem Gefühl der inneren Abwehr. Sind meine Hände wirklich so leer, wie es das Lied behauptet? Bringt mein Leben nichts hervor, mit dem ich selbstbewusst vor Gott hintreten kann?
Am Erntedankfest treten wir mit vollen Händen vor Gott. Wir bringen etwas von den Früchten der Erde, um ihm dafür zu danken. Dabei sind wir uns bewusst, dass die Ernte nicht immer gleich gut ausfällt. Manchmal sind unsere Hände übervoll. Es kommt aber auch vor, dass die Ernte schlecht ausfällt. Unwetter haben sie unter Umständen auf einem ganzen Landstrich vernichtet. Die Betroffenen würden wohl lieber mit ihren leeren Händen vor den Schöpfer hintreten und ihm sagen: Sieh her, was da geschehen ist.
Weltweit unternehmen die Menschen große Anstrengungen, um einen Ausgleich zu schaffen, der die Not der Betroffenen wenigstens abmildert und ein Weiterleben ermöglicht. Es ist nicht nur gerecht, darauf zu achten, dass andere Mitproduzenten und auch Mitwettbewerber auf dem Weltmarkt nicht untergehen, sondern auch klug. Denn auch wir sind von Zeit zu Zeit auf die Hilfe durch andere angewiesen sein.
Es kann aber auch passieren, dass die Ernte so überreich ausfällt, dass die Marktpreise verfallen und jene, die ein ganzes Jahr dafür hart gearbeitet haben, mit langen Gesichtern auf ihre Endabrechnung schauen.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet sind unsere Hände manches Mal voll, manches Mal halbleer und hoffentlich nie ganz leer.
Geben und nehmen
Im Markusevangelium behauptet Jesus in einem Gleichnis: "Die Erde bringt von selbst ihre Frucht..." Auch diese Aussage ist kritisch zu hinterfragen. Wer jemals in der Landwirtschaft gearbeitet hat, weiß, wie mühevoll es ist, und was der Mensch dazu beitragen muss, und wie viel Wissen und Können es braucht, um eine gute Ernte zu erzielen.
Darüber hinaus wissen wir, dass wir der Erde auch etwas zurückgeben müssen, damit sie Früchte bringen kann. Genau genommen ist es ein Geben und Nehmen. Wer auf Dauer dieses Gleichgewicht einseitig belastet, wer immer nur nimmt und nicht gibt, wird nachhaltige Schäden anrichten.
Dennoch bringt das Schriftwort etwas Richtiges zum Ausdruck. Bei allem Wissen und Können bleibt etwas Unverfügbares, Geschenkhaftes. Dessen machen wir uns beim Erntedank bewusst, wenn wir mit vollen Händen vor Gott hintreten und ihm für die Früchte der Erde und unserer Arbeit danken.
Frucht bringen
Mittlerweile ist nur mehr ein kleiner Prozentsatz der Menschen in der Landwirtschaft damit beschäftigt, Lebensmittel zu produzieren. Weit mehr Menschen arbeiten in der Weiterverarbeitung der Agrarprodukte und in der Vermarktung. Durch Arbeitsteilung ist unser Wirtschaftssystem viel leistungsfähiger geworden. Viele Menschen tragen zum Lebensunterhalt bei, indem sie in Aufgabenbereichen, die mit der Produktion von Nahrungsmitteln gar nichts mehr zu tun haben, geben, was sie geben können und so ein Recht haben zu nehmen, was sie zum Leben nötig haben. Diese Entwicklung hat zu einem viel umfassenderes Geben und Nehmen geführt. Meist sind wir uns gar nicht mehr bewusst, wie sehr wir auf das wechselseitige Geben und Nehmen angewiesen sind.
Arbeitslosigkeit ist für viele vor allem deshalb schwer auszuhalten, weil sie sich aus diesem wechselseitigen Geben und Nehmen ausgeschlossen fühlen.
Durch unsere Teilnahme an diesem weltweiten Austausch am Nehmen, Zurückgeben und Weitergeben bringen wir selbst Früchte hervor. Wir werden selbst Teil dieses großen Kreislaufes. Dies vermittelt uns Wertschätzung, Sinngehalt und Zufriedenheit.
Dankbares Genießen
Am Erntedankfest bringen wir zunächst unseren Dank Gott gegenüber zum Ausdruck, der uns zum Leben gibt, was wir dazu nötig haben. Er gibt uns weit mehr, als wir zum Überleben brauchen. Wir freuen uns nicht nur an der Menge des Geernteten sondern auch an der Qualität, der Schönheit und am Geschmack. Auch dafür sind wir Dank schuldig.
Unser Dank gilt aber auch jenen, die an diesem weltweiten Geben und Nehmen teilhaben. "Wenn jeder gibt, was er hat, dann werden alle satt..." heißt es in einem anderen Lied. Nicht allen ist bewusst, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Das Geld und das Finanzwesen sind ein Mittel, das einen so umfassenden Austausch ermöglicht. Sie erwecken aber allzu leicht den Anschein, dass man alles mit Geld bewerten, kaufen oder machen kann und verdecken die Tatsache, dass auch in einer Geldwirtschaft die Bereitschaft zum Geben vorausgesetzt werden muss, um auch nehmen zu können. Nur so kommen wir zu einem einigermaßen gerechten Ausgleich.
Das Erntedankfest will uns auch bewusst machen, dass bei allem Rechnen und Handeln unsere Lebensmittel und unser Lebensunterhalt auch etwas Geschenkhaftes an sich haben und dass diese Gaben auch jenen zustehen, die aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage sind, dafür eine Leistung anzubieten. Sei es, dass sie infolge einer Behinderung nichts dazu beitragen können, oder durch eine Krankheit oder durch Arbeitslosigkeit.
Unseren Dank an den Schöpfer vollziehen wir im Miteinanderteilen und im dankbaren Genießen seiner Gaben. Und es ist kein Zufall, dass dieses Teilen und Genießen auch wesentliche Elemente des Eucharistiefeierns sind. Hier lernen wir, die Früchte des Lebens zu genießen und selbst Frucht zu werden.