Das Beispiel Jesu
Das heutige Evangelium befasst sich mit der Liebe. Sie ist, so wird uns von Jesus selbst gesagt, das Markenzeichen des Christen: "Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Junger und Jüngerinnen seid, wenn ihr einander liebt."
Damit wir uns bei dem Wort "Liebe" nicht falschen Vorstellungen hingeben, lenkt Jesus den Blick auf sich selbst. Bei ihm können wir lernen, wie Liebe aussieht.
Im Evangelium haben wir gehört: Judas ist hinausgegangen. Er wird mit dazu beitragen, dass Jesus gefangen genommen werden kann und seine ungerechte und grausame Kreuzigung ins Werk gesetzt wird. In diesem Geschehen, so sagt Jesus, wird der Menschensohn sich verherrlichen. Das heißt: Jetzt, in seinem Leiden wird vor allem deutlich werden, dass er, Jesus, in seinem Denken und Handeln von der Liebe geleitet und bestimmt wird. Wie bei allen Menschen das Leid eine Situation für die Bewährung in der Liebe darstellt, so ist es auch bei Jesus.
Führen wir uns kurz vor Augen, wie Jesus handelt. Obwohl er weiß, dass Judas ihn verraten wird, schließt Jesus ihn vom Abendmahl nicht aus. Er wird ihm gegenüber weder gehässig noch ausfällig oder wütend. Judas könnte umkehren, in der Jüngergemeinschaft verbleiben, ohne dass ihm vonseiten Jesu auch nur ein einziges Wort des Tadels träfe. Leider ergreift Judas diese Chance nicht.
Der Verurteilung durch Pilatus, dem Spott und Hohn der Soldaten begegnet Jesus mit der Bitte an den Vater: Herr, rechne ihnen dies nicht zur Sünde an; denn sie wissen nicht, was sie tun. Den Höhepunkt seiner Liebe setzt Jesus in seinem Sterben. Gequält und gemartert denkt er nicht an sich, sondern wendet sich in seiner Liebe dem reumütigen Schächer zu und vertraut die Sorge um seine Mutter dem Apostel Johannes an. Nicht nur im Leben, auch - und vor allem - im Sterben erweist sich Jesus als einer, dessen Wesen ganz von der Liebe geprägt ist. Und indem er von der Liebe nicht ablässt, verherrlicht er Gott, dessen Wesen Liebe ist.
Liebe sucht das Wohlergehen des Nächsten
Liebe, so möchte uns Jesus und der Evangelist Johannes vor Augen führen, ist mehr als ein "Danke schön!" an Menschen, die uns Gutes tun oder taten. Liebe geht in ihrem Wesen noch einen Schritt weiter. Sie sucht das Heil und Wohlergehen des Nächsten unabhängig davon, wie dieser sich verhält.
Damit stehen wir bei der entscheidenden Frage an uns: Bin ich in der Tiefe meines Herzens und meines Wesens ein Liebender? Will ich das Heil und Wohlergehen der Menschen auch dann noch, wenn ich nicht in ihrem Wohlwollen stehe, durch sie enttäuscht oder ins Leid gebracht werde?
Nur eine ehrliche Antwort auf diese Frage bringt uns weiter. In der Bibel wird uns an vielen Stellen davon berichtet, wie viel Mühe die Apostel damit hatten, wahrhaft Liebende zu werden. Wir müssen uns also nicht schämen, wenn wir noch sehr am Anfang stehen. Dass wir der Frage nach Grad und Umfang unserer Liebe nicht ausweichen, das ist das Entscheidende.
Bei einer Besinnung wird uns klar werden: Menschen, die uns mögen und die wir mögen - Menschen, die unser Gutsein erwidern und sich dankbar erweisen, sie zu lieben, ist relativ einfach. Dass wir auf Liebe und Wohlwollen mit Gegenliebe reagieren, ist schon einmal gut, auch wenn es leicht fällt.
Schwächen aushalten
Wo wir für die Liebe sehr wach sind, vermögen wir allerdings noch weit mehr. Denn wo uns am Heil und Wohlergehen des anderen wirklich etwas liegt, dort werden wir fähig - mindestens fähiger, Schwächen und Versagen unserer Mitmenschen auszuhalten. Und gerade in Situationen, wo wir aneinander schuldig werden, ist die Liebe so wichtig.
Wenn wir in der Haltung des Liebenden verbleiben, machen wir es dem anderen leichter, sich uns wieder zuzuwenden.
Wo wir auf eine große Entschuldigungsszene verzichten und andeuten, ich möchte meinerseits wieder in ein gutes Verhältnis mit dir kommen, atmet doch jeder schuldig Gewordene auf.
Wegen eines Versagens nicht gedemütigt oder zu Boden getrampelt werden, das lässt aufstehen, mit Schwung umkehren, das Gute wieder dankbar und mit Kraft anstreben.
Wer liebt, bringt Heil in die Welt
Wenn ich dies so sage, dann möchte ich damit nicht verneinen, das wir dem Nächsten nicht auch hin und wieder oder sogar öfter sagen dürfen: Dies und das von deiner Seite kann ich nur schwer ertragen, macht mich auf dich wütend, will ich mir nicht ständig von dir gefallen lassen.
Die Frage ist, wie ich dem anderen sage, was mir unerträglich ist. Wenn ich von der Liebe und dem Verlangen bestimmt werde, wieder in ein gutes Verhältnis zu kommen, werden meine klaren und bestimmten Worte einen ganz anderen Klang haben. Sie werden nicht Ohrfeigen gleichkommen und frei sein von Formen der Bissigkeit und Gehässigkeit.
Als Menschen mit Schwächen und Versagen werden wir immer wieder aneinander schuldig, gehen wir uns auf den Geist, leben wir oft unversehens auch ein gutes Stück egoistisch. Diese Situationen in einem erneuten Anlauf der Liebe zu bereinigen, dazu will uns Jesus und der Evangelist Johannes bewegen. Nicht dass wir fehler- und sündelos sind, ist unser Markenzeichen, sonder die Liebe, die aus den verkorksten Situationen und aus Fehlverhalten herausführt.
Diese Liebe zu leben, ist nicht einfach oder leicht. Aber gerade sie macht jenen neuen Menschen aus uns, der aus der Gnade und Kraft Gottes den Christen in uns prägt: jenen Menschen, der im Denken und Handeln darum ringt, Jesu liebevolles Wesen in sich aufzunehmen. Und immer dort, wo wir in Liebe antworten und reagieren, bringen wir Heil in die Welt und unter die Menschen, tragen wir dazu bei, dass Auferstehung geschieht.
Bitten wir den Herrn neu leidenschaftlich um die Kraft der Liebe, um ein Wesen, das seinem Wesen gleicht, damit wir zum Segen werden für unsere Welt. Denn es gibt nichts Schöneres und Beglückenderes für uns in dieser Welt, als wenn wir einander von Herzen lieben.