Jetzt wissen wir, für wen Lukas das Evangelium schreibt: Theophilus. Er hat den christlichen Glauben kennen gelernt, ein Anfänger, der jetzt mehr wissen, mehr verstehen soll. Für Lukas Anlass genug, "allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen". Quellenstudium nennt man so was. Nichts, was bloß als Vermutung, Ahnung oder Illusion durchgehen könnte. Und wir - wir profitieren davon! Ein Glücksfall. Ein schöner obendrein: Das Evangelium hat eine Widmung, eigenhändig. Schön, dass wir dieses Exemplar in Händen haben, hoch verehrter Theophilus!
Unter uns ereignet und erfüllt
Wir wissen zwar nicht, wer alles unternommen hat, einen Bericht über alles abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat, aber über den Hinweis stolpere ich: "unter uns ereignet und erfüllt".
Am besten ist, einfach mal in die Synagoge von Nazaret zu gehen. Hier ist Jesus zu Hause, hier ist seine Heimat, hier beginnen seine Spuren. Eigentlich ist Nazaret ein Nest, unbedeutend, am AdW. Was kann aus Galiläa schon Gutes kommen - fragten die Leute, ebenso vielsagend wie großspurig.
Dass hier in der Synagoge Weltgeschichte geschrieben wird, hat man auch in Jerusalem nicht verwunden - schließlich ist es nicht egal, wer wo etwas zu sagen hat. Dabei ein alles andere als ungewöhnlicher Vorgang: Nach Brauch der jüdischen Gemeinde legt Jesus einen Abschnitt aus dem Propheten Jesaja aus - den Abschnitt, der gerade dran ist. Lukas erzählt:
"Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt:
Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."
Wer ihn hört, kennt ihn - hier kennt jeder jeden. Mit Spitznamen. Mit Kindheitserinnerungen. Mit Familienstreit. Schließlich hat man im Sandkasten zusammen gespielt, in der Kneipe zusammengehockt, auf dem Dorfplatz gefeiert. Jetzt sitzen sie alle in der Synagoge. Einer aus ihrer Clique - ganz vorne. Über die Schrift gebeugt. Ein Ruf eilt ihm schon voraus. Trotzdem: es ist, wie Lukas schreibt, der Heilige Geist, der ihn an diesen Ort führt. Dann der unglaubliche Satz:
"Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet.
Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt."
Sie müssen sich die Szene vorstellen! Ein Zimmermanns Sohn, ohne große Bildung, nicht studiert, keiner, der etwas von der Welt gesehen hat - ein Niemand also. Der sagt: Was der Prophet Jesaja verheißen hat, ist heute - heute! - vor euren Ohren erfüllt. Wenn ich dann frage, was, höre ich seinen Anspruch, den Armen gute Botschaft zu bringen, den Gefangenen die Freilassung zu verkünden und den Blinden das Licht. Die Zerschlagenen, Entmutigten und Verlorenen sollen frei werden - Jesus ruft ein Gnadenjahr Gottes aus.
Gnadenjahr
Das ist das Stichwort! Gnadenjahr Gottes! Nach der alten Überlieferung ist es ein besonderes, alles veränderndes Jahr, das Jobeljahr. Wenn 7 x 7 Jahre vergangen sind, sollten alle Schuldverhältnisse zu Ende sein. Alle Abhängigkeiten gelöst werden. Für alle ein neuer Anfang! Für Herren wie für Sklaven. Damit wir uns nicht missverstehen: Das sollte für Pachten gelten wie für Eigentum, für Grund und Boden wie für die Armen im Lande. Noch einmal bei Null anfangen - das ganze Leben vor sich haben. Dass das jemals funktionierte, ist nirgendwo überliefert. Es blieb wohl bei einem frommen Traum - kein Herr gibt auf, was ihm gehört - kein Sklave kommt nach oben. Auch im fünfzigsten Jahr nicht. Nicht einmal im fünfzigsten Jahr.
Zugegeben: Was einmal auch wirtschaftlich und rechtlich gedacht war, bekommt bei Jesus - und auch schon bei seinem Gewährsmann Jesaja, Jahrhunderte vor ihm - eine besondere Bedeutung, weil Menschen frei werden von Ängsten, Schuldverstrickungen und Verblendungen, frei werden auch von dem alles zermalmenden Egoismus, frei werden von dem wuchernden Hass.
Was dann am meisten erstaunt: Jesus traut dem Wort, seinem Wort alles zu - auch, Abhängigkeiten aufzulösen, Teufelskreisläufe zu brechen und - Berge zu versetzen.
Tatsächlich: eine gute Botschaft für Arme. Tatsächlich: ein Gnadenjahr Gottes.
Dass das am AdW, in Nazaret laut wird, ist ebenso bedeutsam wie der Ort, an dem Jesus seine unglaubliche Bemerkung macht: Es ist die Synagoge - der Ort also, an dem an jedem Sabbat die große Geschichte Gottes mit Menschen erzählt und erinnert wird. Oder darf ich es auch so sagen? Ohne Jesaja hätte es diese Predigt nicht gegeben und - meine übrigens auch nicht. Es ist die große Sehnsucht, mit den Augen Gottes die Welt, die Menschen, mich zu sehen, Abhängigkeiten beim Namen zu nennen - und sich die Freiheit der Kinder Gottes schenken zu lassen, ja, um einander dann die große Freiheit der Kinder Gottes zu schenken. Das Zauberwort im Evangelium heißt: Befreiung.
Als Jesus Nazaret wieder verlassen hat - nicht ohne Konflikte (davon am nächsten Sonntag mehr) - hat er mit seinem Wort an vielen Orten, in vielen Begegnungen und Auseinandersetzungen, Menschen frei gemacht - und frei gesprochen. Das Gnadenjahr hat ein Gesicht bekommen, eine Stimme - und viele Gesten und Zeichen. Vielen Menschen ging der Himmel auf. In Jesus konnten sie Gott selbst sehen. Seinen Sohn. Dem Vater aus dem Gesicht geschnitten. Aber das ist eine lange Geschichte. . . Heute sind wir sozusagen bei der Antrittsrede Jesu dabei. Ein großer Augenblick. War doch gut, in Nazaret in die Synagoge zu gehen, oder?
Ein gelüftetes Geheimnis
Was Theophilus wohl gedacht hat, als er in diesem Bericht einen ganzen Reigen von Worten und Geschichten, Ereignissen und Widerfahrnissen zugespielt bekommt - aus erster Hand sozusagen. Sie möchten mehr von Theophilius wissen? Von mir können Sie, leider, nicht mehr viel erfahren. Nur: Theophilus heißt auf deutsch: der, der Gott liebt - und auch: der, den Gott liebt. Selten war ein Name so sehr Programm, Verheißung und Glücksgefühl in einem. Fällt Ihnen etwas auf? Ich glaube: Lukas, der Evangelist, hat mich, Sie, uns in diesem Namen versteckt!
Lukas schreibt:
"Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hoch verehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest."
Der Reihe nach aufgeschrieben! Freuen wir uns doch an dem Gnadenjahr des Herrn! Es ist ausgerufen, eröffnet! Heute!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne,
in Christus Jesus,
unserem Herrn.