Noch kommt der Herr nicht
Über dem Evangelium des heutigen Sonntags schwebt ein spürbarer Hauch tiefer Sorge. Sie gipfelt in dem dringlichen Appell, wachsam zu sein. Was treibt den Evangelisten um, was veranlasst Matthäus zu dieser ernsten Mahnung an die Gläubigen seiner Gemeinde?Wir wissen, dass sich unter der ersten Generation der Christen, zu denen viele gehörten, die Jesus selbst gekannt und erlebt hatten, die Überzeugung verbreitet hatte, der Herr werde sehr bald wiederkommen, um das Reich Gottes zu vollenden und die Menschen heim zu holen in die Wohnungen, die der Auferstandene vorzubereiten bei seiner Himmelfahrt versprochen hatte. In der Apostelgeschichte (4,32-37) wird uns berichtet, wie manche Christen dabei so weit gingen, dass sie ihre Äcker oder Häuser verkauften und den Erlös für die Ärmeren und Armen in der Gemeinde zur Verfügung stellten. Das Ausbleiben dieser so genannten „Naherwartung“ der Wiederkunft Jesu stürzte nicht wenige in eine regelrechte Glaubenskrise. Hatten sie sich in Jesus getäuscht? Sollte man die Hoffnung, die man in die neue Glaubensrichtung gesetzt hatte, nicht lieber begraben und Abstand vom Christentum nehmen? Wie viele dies taten, wissen wir nicht.Aber selbst dort, wo man sich nicht gleich völlig vom Christentum lossagte, löste das Ausbleiben der nahen Wiederkunft des Herrn bei vielen eine gewisse Lauheit aus. In der zweiten Generation der Christen gab es sichtlich eine Reihe von Mitgliedern, die es in ihrem Eifer langsam angehen ließen. Sie lebten mehr nach dem Motto: Wer weiß, wann der Herr wiederkommt – aktiv werden können wir immer noch. Diese sich ausbreitende Lauheit und Gleichgültigkeit unter den Gläubigen bereiteten dem Evangelisten große Sorge. Um diesem Trend Einhalt zu gebieten, zeigt Matthäus in zwei Bildern den Gläubigen, wohin Lauheit und Gleichgültigkeit führen kann.
Gleichgültigkeit
Das erste Bild entnimmt er dem Alten Testament. Die Geschichte mit Noach war allen Mitgliedern seiner Gemeinde bekannt. Die Menschen damals – so will Matthäus sagen – lebten in den Tag hinein. Sie leugneten Gott nicht, redeten nicht böse über ihn; aber sie scherten sich auch nicht um ihn. Ohne Blick auf Gott lebten sie ihr Leben nach eigenem Gutdünken. Es kam ihnen überhaupt nicht in den Sinn, die Frage zu stellen: Ist das, was wir tun, richtig, in Ordnung, Gott wohlgefällig? Und weil sie gedankenlos, oberflächlich und ohne Gottverbundenheit lebten, kamen sie auch nicht auf die Idee, dass sie nicht ewig ihr Spiel mit Gott würden treiben können. So wurden sie von der Flut überrascht.Mit dem zweiten Bild, dem Beispiel vom Einbrecher, möchte Matthäus die Gläubigen auf etwas hinweisen, das man bei Unachtsamkeit leicht übersieht. Lauheit oder Gleichgültigkeit überrollen uns nicht mit Getöse oder Volldampf. Vielmehr schleichen sie sich – wie ein Dieb – auf leisen Sohlen heran. Sie kämpfen nicht mit uns. Dann würden wir ja auf sie aufmerksam. Nein, sie wiegen uns in Sicherheit, geben uns das Gefühl, alles sei in Ordnung. Wir haben mit niemandem Krach oder Streit, - ecken in unserer Gleich-gültig-keit mit niemandem an. Solange wir nicht bewusst nachdenken, uns ernsthaft immer wieder überprüfen, ob dieser Friede ein guter Friede ist, wird unser Herz nicht unruhig werden. Daher der leidenschaftliche Appell des Matthäus: Seid wachsam, lebt nicht in falschen Sicherheiten.Es ist nicht damit zu rechnen, dass uns eine Sintflut, wie sie im Alten Testament beschrieben wird, bei unserer Lauheit überschwemmen wird. Aber Sintflutartiges, das uns zuweilen sogar den Tod oder Lähmung im Leben bringen kann, schwappt doch alle Tage über uns herein infolge unserer Gleichgültigkeit.
- Tote durch Alkohol im Straßenverkehr;
- Sterben, ohne dass Beistand, der möglich wäre, gewährt wird;
- Ungerechte Verteilung von Gütern dieser Erde. Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer;
- Ehen zerbrechen nicht an unlösbaren Konflikten der Partner, sondern laufen im belanglosen Nebeneinander aus, lösen sich schleichend auf;
- Verwahrlosung betrifft nicht mehr nur einzelne, sondern ganze Gruppen oder Schichten;
- Das Streben nach solidem, dauerhaftem Glück und sinnerfülltem Leben wir ersetzt durch den Genuss der Lust im Augenblick, den Kick, die Droge.
Es gibt genügend Leid in der Welt, das wir bei bestem Willen nicht ändern oder verhindern können. Umso mehr - das will uns Matthäus ans Herz legen – sollten wir darauf bedacht sein, unser und das Leben der Mitmenschen nicht auch noch durch Leichtsinn und Gedankenlosigkeit zu belasten oder ins Unglück zu stürzen.
Wie können wir wachsam sein?
Wie könnte Wachsamkeit, zu der wir aufgerufen sind, im praktischen Leben aussehen?Nach außen unterscheidet sich im normalen Alltag das Leben des Christen nicht wesentlich vom Nicht-Christen. Beide essen, trinken und heiraten. Beide gehen aufs Feld, an die Arbeit, verrichten ihre Hausarbeiten. Äußerlich muss der Unterschied nicht auf den ersten Blick sichtbar werden; denn er liegt mehr in der inneren Einstellung und Haltung. Nur auf Dauer wird er nicht verborgen bleiben. Vor allem aber prägt er das Wesen des Menschen. Der wache Christ wird z.B. bei seiner Arbeit, die ihm die gleiche Mühe abverlangt wie dem Nicht-Christen oder Lauen, nicht vergessen, Gott für seine Kräfte, seine Gesundheit, seine Talente zu danken. Er wird die Arbeit – neben der Mühe, die sie macht – annehmen als seinen Anteil, die Welt mit zu gestalten, und daher neben seinem eigenen Wohl auch sehr bewusst das Wohl der anderen im Auge behalten. Arbeit ist für den wachen Christen nicht nur ein Job, um Geld zu verdienen und die Arbeitszeit abzuleisten, sondern auch Dienst an den Menschen und der Welt. Lebendige Christen werden solide arbeiten und nicht Pfuscharbeit abliefern. Ihnen ist bewusst: Ich kann meiner Arbeit ein ganz persönliches Gepräge geben, meinem Schaffen meinen Stempel aufdrücken, meiner Arbeit eventuell durch mein Können sogar eine Krone aufsetzen. Arbeit – auch schwere und nicht beliebte – unter dieser Sicht angenommen und ausgeführt kann zu Erfüllung und Freude führen, auch wenn ich nicht gerade über sie jubele. Wache Christen werden darüber hinaus immer auch darauf schauen: Könnte ich andere entlasten. Habe ich noch Spielraum an Zeit und Kraft, um Überforderten beizustehen. Habe ich eine Idee, wie und wo etwas verbessert werden könnte.Der wache Christ wird sodann im Alltagsgeschehen für das Gute Partei ergreifen und sich gegen Böses oder Unrecht stemmen. Er wird den Schwachen verteidigen, sich für Wahrheit und Gerechtigkeit einsetzen, Mut machen, wertvolle Ideen und Maßnahmen anderer mittragen. Zu dieser Lebendigkeit, Entschlossenheit, zu Einsatz, Mitverantwortung, im Leben stehen und es nach Kräften und Gaben ein Stück nach Gottes Plan mitgestalten, - dazu will Matthäus die Gläubigen aufrufen und antreiben und gleichzeitig warnen, sich nicht durch Unachtsamkeit einer einschleichenden Lauheit preis zu geben.
Jeden Tag begegnet uns der Herr, nicht erst zu Weihnachten
Wir feiern den ersten Adventssonntag. Unsere Augen und Herzen beginnen, sich auf Weihnachten auszurichten. Es ist schön, dass wir den Geburtstag Jesu weltweit feiern. Den Geburtstag feiern bedeutet:
- Feiern, dass durch das Leben des Betroffenen, durch seine Liebe, sein Wirken, sein Dasein die Welt reicher wurde,
- feiern, dass wir uns durch das Geburtstagkind beschenkt wissen,
- feiern, dass wir mit dem anderen verbunden in dieser Welt unterwegs sind, Leben und Glück füreinander und miteinander gestalten und uns in gegenseitiger Sorge begleiten.
Nehmen wir die Geburtstagsfeier Jesu ernst. Leben wir in dieser Welt nicht ohne ihn, sondern mit ihm. Er will nicht erst am Ende der Zeiten kommen, um uns für den gemeinsamen Weg der Ewigkeit abzuholen. Heute und Morgen und jeden Tag erscheint er und begegnet uns auf dem Feld, am Mehltopf, im Büro, auf der Baustelle, im Urlaubsort, um uns mitzunehmen auf den christlichen Weg, den er mit uns gemeinsam gehen will. Sei wachsam, vergiss das nicht, will uns Matthäus mahnen.
© P. Klemens Nodewald CSsR, November 2007