Ein hoch verschuldeter Mensch
Bei der eben gehörten Geschichte handelt es sich um eine Parabel, in der ein ungewöhnlicher Vorgang geschildert wird. Wem diese Parabel nicht bekannt ist, der könnte sich nicht vorstellen, dass einem über die Maßen verschuldeten Mann alle Schuld erlassen wird; ja, dass er nicht einmal Rechenschaft ablegen muss über das veruntreute Geld. Doch so hat es sich ereignet.
Die Parabel schließt an ein Gespräch an, in dem Jesus von Petrus gefragt wird: "Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt?" Jesus hat darauf geantwortet: "Siebenundsiebzigmal", was in rhetorischer Überspitzung ausdrücken will: Immer wieder!
Vergegenwärtigen wir uns, wie die Geschichte abläuft. Erzählt wird von einem Herrn, am Anfang als König eingeführt, der von seinen Dienern über die Verwaltung der Gelder Rechenschaft verlangte. Das Umfeld ist ein orientalischer Hof, wo die Diener - höhere Hofbeamte - völlig dem Herrscher ausgeliefert waren. Einer von ihnen, möglicherweise der Verwalter einer Provinz, schuldete seinem Herrn, aus welchen Gründen auch immer, die enorme Summe. Zehntausend Talente. Hier wird bewusst ein die realen Verhältnisse übersteigender Schuldenanteil genannt. Damit soll zum einen deutlich gemacht werden, wie unvorstellbar groß die Schuldenlast des Dieners seinem Herrn gegenüber war, der sie ihm dann erlässt. Zum andern wird in dieser hohen Summe gerade der Kontrast deutlich zu der verschwindend kleinen Summe, deretwegen derselbe Diener einen anderen, der ihm nur wenig schuldete, zur Rechenschaft zog.
Da diese Summe unmöglich heraus gewirtschaftet werden konnte, greift der Herr zu einer drastischen Maßnahme, die ihm das damals in Palästina geltende hellenistische Strafrecht erlaubte. Der Schuldner wurde dazu verurteilt, sich selbst, Frau und Kinder und sein ganzes Hab und Gut zu verkaufen. Das alttestamentliche Recht kennt wohl die Versklavung des Schuldners, aber nicht die der ganzen Familie (vgl. Ex 22, 2). Ehe es zu Ausführung dieser Sippenexekution kommt, bittet der zahlungsunfähige Diener um Gnade. Er verspricht, aus der Not geboren, etwas, was er nie und nimmer wird einlösen können, nämlich alles zurückzuzahlen. Der Herr hätte ihm vielleicht eine Frist setzen können. Nein, er hatte, so heißt es, Mitleid mit ihm. Er erlässt dem Diener sofort die gesamte Schuld und belässt ihn in seinem Amt. Das Recht wird damit durch einen Akt reiner Gnade außer Kraft gesetzt.
Ein unbarmherziger Diener.
Nun wäre zu erwarten gewesen, dass der, dem eine so ungeheure Schuld erlassen wurde, an einem anderen bei ihm in Schuld geratenen Diener genau so großmütig gehandelt hätte wie sein Herr. Zumal er ihm nur die vergleichsweise lächerliche Summe von hundert Denaren schuldig war. Der Schuldner bittet um Nachsicht. "Da fiel der andere vor ihm nieder und flehte: Hab Geduld mit mir! Ich werde es dir zurückzahlen." Dies sind dieselben Worte, mit denen er selbst zuvor seinen Herrn um Erbarmen angefleht hatte. Doch im Unterschied zu seinem Herrn war er nicht bereit, Gnade vor Recht gelten zu lassen. Stattdessen übte er brutale Gewalt aus, er ließ den andern ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld abzahlen konnte. Aus einem Schuldner, dem eine Riesenschuld erlassen wurde, ist ein unnachsichtiger Gläubiger geworden. Der Kontrast zwischen dem barmherzigen Herrn und dem unbarmherzigen Diener hätte nicht größer sein können.
Als einige der Diener das sahen, machte sie das traurig. Sie berichteten ihrem Herrn davon. Der ließ den skrupellosen Diener kommen und wies ihn zurecht: "Du elender Diener! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast. Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?"
An Gott Maß nehmen.
In diesen Worten erschließt sich der Sinn der Parabel. Die bedingungslose Vergebungsbereitschaft des Herrn weist in bildhafter Weise hin auf die unfassbare, maßlose Güte Gottes selbst dem gegenüber, der schwere Schuld auf sich geladen hat. Wie öfter beim Evangelisten Matthäus wird die Parabel mit dem Eingangsworteingeleitet: "Mit dem Reich Gottes verhält es sich wie..." Es ist damit das gütige Handeln Gottes gemeint, das wir für unser Verhalten als Maßstab nehmen sollen gegenüber denen, die an uns schuldig geworden sind. Man könnte sagen: Wenn solches schon in der irdischen Welt möglich ist, wo das Recht maßgebend ist, um wie viel mehr dann in der Wertordnung des Gottesreiches mit seinen ganz anderen Maßstäben.
Die Folter, von der in dieser Geschichte die Rede ist, wurde gemäß der damaligen Rechtspraxis dazu eingesetzt, Auskünfte über das veruntreute Geld zu erlangen. Eine solche unmenschliche Strafmaßnahme wird man nicht auf Gott übertragen dürfen, weil dies dem barmherzigen Handeln Gottes widersprechen würde. "Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast. Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?" Auch diesmal, ähnlich wie bei der Parabel von den Arbeitern im Weinberg, beendet der Evangelist die bildhafte Erzählung mit einer moralischen Sentenz. "Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt." Damit wird diese Geschichte zu einer Art Gerichtspredigt. Es ist darin der mahnende Imperativ zu hören: Respice finem - Bedenke das Ende!
Gott vergibt im Voraus.
"Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt." Wie wird Gott an Menschen handeln, die nicht bereit sind, anderen ihre Schuld zu vergeben? Gewiss nicht so, wie der Herr in der Parabel mit dem verfuhr, der dem andern die Schuld nicht erlassen wollte. Gemeint ist, dass Gott uns nicht vergeben kann, wenn wir nicht unseren Mitmenschen vergeben. Die Sätze, die der letzten Vaterunserbitte folgen, sagen dasselbe aus: "Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben" (Mt 6,14 f).
In der Bergpredigt hören wir das so: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden" (Mt 7,1 f). Der Evangelist Lukas macht in der sog. Feldrede noch den Zusatz: "Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden" (Lk 6,37). Zweifellos wird hier ein Zusammenhang hergestellt zwischen der Vergebung, die Gott uns schenkt, und der Vergebung, die wir unseren Mitmenschen zuteil werden lassen. Es kann sich jedoch nicht um ein Nacheinander handeln. Zuerst muss der der Mensch vergeben, und dann erst vergibt Gott. Die Zuordnung von menschlicher und göttlicher Vergebung ist mehr als ein Beziehungsgeschehen zu sehen, in dem Gott der Gebende ist und wir die Beschenkten. Im 1. Johannesbrief heißt es: "Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat (1 Joh 4,10). Und: "Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat" (1 Joh 4,19).
Auf die Vergebung bezogen würde dies bedeuten, dass wir - all unserem Handeln voraus! - in die Vergebung schenkende Liebe Gottes hinein genommen sind. Wer aber dann nicht bereit ist, den Menschen Liebe, Vergebung zu schenken, der verschließt sich vor Gott. Er gibt der vergebenden Liebe Gottes keinen Raum in seinem Herzen. Wenn unser Herz verhärtet bleibt anderen gegenüber, dann kann Gott nicht vergeben, so sehr er es auch wollte. So gesehen macht Gott seine Vergebung abhängig von unserer Bereitschaft, andern zu vergeben.
Mach es nicht wie dieser Mensch!
Zuallererst hat der Herr seinem Diener die immense Schuld erlassen. Daraufhin hätte der Diener genau so handeln sollen und dem andern die weit geringere Schuld erlassen müssen. Er verweigerte sich der Liebe, die ihm geschenkt wurde. Mach es nicht wie dieser Mensch! Das ist die Quintessens dieser Beispielerzählung. Sie geht jeden von uns an, und sie lässt mich fragen: Handle ich nicht manchmal ähnlich wie der, dem eine große Schuld erlassen wurde und der dann hingeht und seinem Mitmenschen die kleine Schuld nicht erlässt? Doch Gott kann in seiner alles Begreifen übersteigenden Güte unsere Herzen verwandeln. Wir können vergeben, weil Gott uns vergibt. Wir können barmherzig sein, weil Gott barmherzig ist. Darum müssten wir Maß nehmen an Gottes Erbarmen. Diesem hohen Maßstab können wir indes nur Schritt für Schritt entsprechen. Wenn wir jedoch Gott an uns wirken lassen, dann wird unsere Bereitschaft, andern zu vergeben, mehr und mehr die Züge von Gottes Güte annehmen. Lassen wir und die Augen des Herzens öffnen für die Liebe Gottes, die gerade in der Vergebung keine Grenzen kennt.