Von Gott enttäuscht
Dieser Jeremia gefällt mir. Ich möchte nicht mit seiner Situation tauschen; aber wie er die Dinge beim Namen nennt, wie er mit seinem Gott spricht, das imponiert mir. Jeremia fühlt sich von Gott verführt. Gutgläubig hat sich der Prophet auf Gott eingelassen. Und nun sitzt er in der Patsche. Je lauter er Gottes Botschaft verkündet, um so mehr wird er von seinen Landsleuten belächelt, verspottet, geschnitten. Und Gott reagiert nicht. Wo bleibt Gott mit seiner Hilfe, auf die Jeremia so felsenfest gebaut hatte?
Jeremia ist bitter enttäuscht von Gott. Und er sagt ihm dies mitten ins Gesicht. Du hast meine Gutwilligkeit, meine Unerfahrenheit, meine Dummheit ausgenutzt. Übertölpelt hast du mich. Ich bin auf dich hereingefallen, als ich mein Ja zu deinem Auftrag sagte. Nicht im Geringsten habe ich je mit dem Prophetenamt geliebäugelt. Du hast es mir aufgeschwatzt. Ich übernahm es, weil ich an deine Stärke, an deine Macht geglaubt habe und darauf vertraute, dass du mir hilfst und zur Seite stehst. Reingefallen bin ich mit dir. Im Stich gelassen hast du mich. Verlacht und verspottet werde ich jetzt, zum Außenseiter bin ich geworden. Das alles hast du, Gott, mir eingebrockt. Ein Opfer meines Gehorsams dir gegenüber bin ich geworden.
Jeremia klagt Gott an
Jeremia klagt Gott an. Er hat den Mut, Gott zu sagen, was Sache ist. Es ist kein nerviges Gezeter oder Herum-Geplärre, sondern die sachliche Aufzählung der Punkte, die Jeremia Gott zum Vorwurf macht.
Der Prophet Jeremia hat Format. Er nörgelt nicht irgendwo in den Ecken herum, hetzt andere nicht gegen Gott auf, rächt sich nicht an ihm, indem er Gottes Auftrag nur nachlässig oder schludrig ausführt. Von Mann zu Mann fordert er den zur Stellungnahme heraus, den er für seine missliche Situation verantwortlich macht: Seinen Gott, der ihn betörte.
Bewundernswert an Jeremia ist: Er schleicht sich nicht einfach davon, sondern ringt mit Gott, der ihm eine Last aufgebürdet hat, die seine Kräfte überfordert. Jeremia nimmt Gott ernst. Er gibt Gott Recht, dass dieser nicht länger zusehen will, wie die Mächtigen im Lande die Kleinen und Schwachen ausbeuten, ihnen nach Lust und Laune Unrecht antun und sich nicht um Gottes Gebote scheren. Ihnen muss ins Gewissen geredet und Einhalt geboten werden. Jeremia ist bereit, dazu seinen Beitrag zu leisten. Darum konnte er ein Ja zu Gottes Auftrag sagen.
Aber dann kommt der Hammer, dieses Unverstehbare an Gott. Gerade die, die bereit sind, für ihn zu kämpfen, sich für ihn einzusetzen und zu engagieren, ihm die Treue zu halten, scheinen oft sehr von ihm verlassen zu sein. Ja mehr noch: Sie erleiden nicht nur Misserfolge; sie ernten auch noch Undank, Vorwürfe, Verdächtigungen. Und nicht selten schlägt obendrein das Schicksal zu: Unglück, Pech, Krankheiten.
Auseinandersetzung mit Gott
In jeder Gemeinde gibt es die Fälle, wo Menschen am Boden liegen, weil ihrem Einsatz, ihrem Engagement nicht Lob und Anerkennung folgten, sondern harte, oft ungerechte Kritik, Undank, Vorwürfe, Verdächtigungen.
Es wäre zu einfach und würde den Betroffenen wohl auch nicht gerecht, die Schuld in all diesen Fällen und Situationen allein auf die Mitmenschen abzuwälzen, die natürlich jeweils ihren Anteil an der Misere haben. Jeremia weiß sehr wohl, dass es in erster Linie seine Mitmenschen sind, die nicht auf ihn hören, ihn belächeln, über ihn spotten und ihn zum Außenseiter stempeln. Dennoch, so glaubt der Prophet, ist auch Gott irgendwie mitverantwortlich für seine missliche Lage. Und wenn schon die Menschen nicht mit sich reden lassen, mit seinem Gott will Jeremia reden: Offen und ehrlich.
Welch wunderbares Verhältnis hat Jeremia zu seinem Gott. Er traut diesem zu, dass er, Jeremia, zwar nur ein Mensch und Geschöpf Gottes, dennoch mit ihm ringen und sich mit ihm auseinandersetzen darf. Verinnerlichen wir uns, welch lebendiger Glaube hinter dieser Haltung steht, selbst wenn die Anklage des Propheten Gott gegenüber zunächst anmaßend erscheinen mag. Vergegenwärtigen wir uns außerdem, wie fair Jeremia sich in dieser Auseinandersetzung verhält: Er sucht nicht Verbündete unter den Gegner Gottes, sorgt nicht für eine böse und aufgeheizte Stimmung Gott gegenüber, gießt nicht Öl ins Feuer derer, die Gott und den Glauben an ihn gern lächerlich machen. Unfairness kann Gott seinem Propheten wahrlich nicht vorwerfen.
Und auch in dem Punkt muss man den Propheten bewundern. Jeremia lässt Gott, sobald er sich von diesem im Stich gelassen fühlt, nicht links liegen, als könne man das einfach so, um dann seine eigenen Wege zu gehen. Der Prophet macht Ernst damit, dass man letztlich nicht an Gott vorbei leben kann. Zwar führen ihm seine Landsleute in ihrem gottlosen Lebenswandel vor Augen, dass dies anscheinend sehr wohl zu gehen scheint; aber so viel Einsicht und Achtung vor Gott hat sich Jeremia bei aller Enttäuschung über ihn bewahrt, dass er weiß: Mit Gott kann man nicht auf Ewig sein Spiel treiben. Gott lässt sich von den Menschen nicht in Luft auflösen oder in den Papierkorb werfen. So ist die Auseinandersetzung mit Gott, die Anklage Gottes durch den Propheten letztlich die konsequente Folge eines gläubigen Menschen, der seinen Gott ernst nimmt.
Drei Erfahrungen
In der Auseinandersetzung mit Gott macht Jeremia drei Erfahrungen.
Erstens: Gott rechtfertig sich nicht.
Er begründet dem Propheten nicht, warum die Wahl auf ihn fiel und nicht auf einen anderen, warum er gerade ihn für diese schwierige Aufgabe auserwählt hat, warum er ihm die damit verbundene Last zumutet und aufbürdet. Sodann beweist Gott dem Jeremia nicht, dass er ihm immer nahe war, obwohl sich dieser von seinem Gott sehr verlassen fühlte. Gott setzt Jeremia, der in seiner Not aufschreit, nicht ins Unrecht.
Zweitens: Gott reagiert nicht beleidigt.
Er tadelt den Propheten nicht ob dessen Anklage. Er enthebt Jeremia nicht entrüstet und erbost seines Amtes oder bedenkt ihn gar mit einer Strafe. Gott wendet sich nicht pikiert ab; er lässt die Anklage in vollem Umfang zu.
Drittens: Gott geht seinen eigenen Weg mit den Menschen.
Immer, wenn Jeremia so sehr am Ende ist, dass er den Gedanken hegt, endgültig aufzugeben, verspürt er in seinem Inneren ein Feuer. Er will nicht mehr, er versteht Gott nicht, er spürt seine Nähe und Hilfe nicht, aber Gott lässt nicht von ihm ab. Er befiehlt nicht, er droht nicht, er zwingt nicht, aber er gibt auch nicht auf, Jeremia spüren zu lassen, dass er seine Pläne mit ihm hat. Die bisherige Erfolglosigkeit des Propheten, seine Müdigkeit und Enttäuschungen sind für Gott nicht Grund genug, Jeremia als Propheten aufzugeben.
Ein geheimnisvoller Gott
Am Ende der Auseinandersetzung ist Jeremia äußerlich keinen Schritt weitergekommen. Die Situation bleibt, wie sie ist. Gott macht Jeremia keine Versprechungen, dass sich bald etwas ändern wird. Er sagt ihm auch nicht mehr an Hilfe und Nähe zu, als er bisher gewährt hat. Äußerlich hat Jeremia nicht nur bei seinen Landsleuten nicht, sondern auch bei Gott keinen Erfolg mit seinen Bemühungen.
Innerlich aber war das Ringen des Propheten mit Gott nicht vergeblich. Jeremia hat neu erfahren, dass er vor Gott nicht kuschen muss, dass er Gott vorhalten darf, worunter er als Prophet, als Gläubiger, als Mensch leidet. Er hat erfahren, dass man Gott an seine Mitverantwortung erinnern und an sie appellieren darf, ohne dass Gott pikiert oder wütend reagiert.
Andererseits wird Jeremia neu bewusst, dass Gott auch in Zukunft ein geheimnisvoller Gott bleiben wird, der sich nicht öffentlich erklärt, sich nicht rechtfertigt, sich nicht verteidigt. Er bleibt ein Gott, der Misserfolge, Not, Krankheit, Schicksalsschläge zulässt und nicht begründet, warum er dies tut.
Jeremia steht am Ende der Auseinandersetzung erneut vor dem Gottesbilde, das uns Menschen so sehr zu schaffen macht: Gott ist undurchschaubar, in seinem Verhalten oft einfach nicht zu verstehen. Seine Liebe, seine Nähe, seine Hilfe sind für uns nicht durchgängig spürbar. Wir fühlen uns oft von ihm im Stich gelassen, dem Leiden aus gesetzt, der Überforderung preisgegeben. Geschieht dies zu unserem Heil? In manchen Fällen können wir sicher mit Ja antworten; aber es gibt auch die Situationen, die wir nicht verstehen.
Sich von Gott betören lassen
Jeremia und uns bleibt am Ende die Entscheidung, ob wir uns von Gott neu betören und packen lassen wollen. Er wird uns dazu nicht zwingen. Auch dafür gibt er uns keine Erklärung, warum er uns oder die Menschen allgemein nicht zum Guten zwingt, um das Leid in der Welt zu verhindern. Gott lehnt Zwang und Gewalt ab, er klopft bei uns nur an, wenn er uns in seinen Dienst nehmen und eine Aufgabe übertragen will. Jeremia spürte das Anklopfen Gottes als brennendes Feuer in seinem Herzen. Dies muss bei uns nicht so sein. Das Werben Gottes um uns und unseren Einsatz kennt viele Möglichkeiten, z.B.:
- die Not der Mitmenschen, auf die wir treffen,
- das Unrecht, dem wir begegnen,
- Chancen, die sich auftun und zu nutzen wären, damit Glück, das ohne uns den Bach hinunter zu gehen droht, Wirklichkeit wird,
- das Verlangen und die Sehnsucht in uns, nicht umsonst gelebt haben zu wollen.
Im Herzen, im Gewissen, durch Alltagssituationen oder besondere Ereignisse klopft Gott bei uns an. Dann sind wir am Zug. Wir müssen entscheiden, ob wir uns auf einen Gott, an dem wir auch öfter leiden, den wir oft nicht verstehen, von dem wir uns zuweilen sogar im Stich gelassen fühlen, erneut unser Ja-Wort geben.