Lesung aus dem Buch Exodus.
In jenen Tagen
stand Mose früh am Morgen auf
und ging auf den Sinai hinauf,
wie es ihm der HERR aufgetragen hatte.
Die beiden steinernen Tafeln nahm er mit.
Der HERR aber stieg in der Wolke herab
und stellte sich dort neben ihn hin.
Er rief den Namen des HERRN aus.
Der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber
und rief: Der HERR ist der HERR,
ein barmherziger und gnädiger Gott,
langmütig
und reich an Huld und Treue:
Sofort verneigte sich Mose bis zur Erde
und warf sich zu Boden.
Er sagte:
Wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe,
mein Herr,
dann ziehe doch, mein Herr, in unserer Mitte!
Weil es ein hartnäckiges Volk ist,
musst du uns unsere Schuld und Sünde vergeben
und uns dein Eigentum sein lassen!
Der Abschnitt Ex 34,4-6,8-9 findet sich innerhalb der Erzählung von der Bundesschließung am Sinai. Nach allgemeinem Urteil ist sie in Beziehung mit Ex 19,10-16 und Ex 24,12-15 zu sehen.
V 4b: Mose steigt auf den Gipfel des Berges Sinai. Das tut er, weil Jahwe ihm das befohlen hat. Die Initiative zu ihrer Begegnung liegt also bei Gott. Entsprechend der übrigen Darstellung kommt Jahwe wieder auf den Berg herab. Der Berg ist also nicht die Wohnung Gottes, sondern nur die Stätte, wo er sich offenbart. Bei der Erscheinung Gottes handelt es sich aber nicht um ein direktes Sehen des göttlichen Wesens, denn Gott bleibt in der Wolke verborgen.
V 5-6: Steht Mose in der Gegenwart Gottes, so „ruft“ er nun seinen Namen an. Dieses Verb ist ein terminus technicus und bezeichnete das öffentliche, meist kultische Bekenntnis zu Jahwe als Gott. Die logischen zum Ritual gehörenden Aktionen wie „sich beugen“ und „sich niederwerfen“ sind gleichfalls aus dem kultischen Ritual. In der geläufigen Sprache, die aus der Tradition des Kults stammte, erzählt hier der Jahwist die Begegnung Gottes mit Mose auf dem Berg Sinai, als ein Geschehen, das zum zentralen Akt der Geschichte Israels, dem Bundesschluß, gehört.
V 8-9: Mose beruft sich auf die Gunst, die er bei Jahwe genießt, und tritt fürbittend für sein Volk ein. Mose wiederholt hier in der Stunde der Bundesschließung, was er Jahwe bereits vorgetragen hatte. Er weiß wohl, daß sein Volk ein halsstarriges ist, aber gerade deswegen braucht es Jahwes ständige Gegenwart und Fürsorge in seiner Mitte. Das Volk zeigte sich bereits vor der Bundesschließung untreu, und so wollte Jahwe keinen Bund mehr schließen. Nicht dem eigenen Ja, sondern Liebe Gottes, entspringt der Bund. Das sollte Israel nicht mehr vergessen, daß es das eigenen Dasein der Initiative und unverdienten Liebe Jahwes verdankt. Was der Bund bedeutete, wird in diesem Zusammenhang auch gesagt: Eigentum Jahewes werden. Es geht also um Totaliät. Ihm ganz zu gehören mit allem, was man hat.
Die Perikope ist in den dritten großen Erzählbogen des Buches Exodus eingespannt. Nachdem in diesem Buch zunächst vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten (erster Erzählbogen) und dann vom Weg durch die Wüste und von der Gesetzesgabe bzw. vom Bundesschluß am Sinai (zweiter Erzählbogen) berichtet worden ist, wird in Ex 24,12-40,38 folgendes geschildert: Mose erhält auf dem Sinai den Auftrag zur Errichtung eines Zeltheiligtums und zur Einsetzung des priesterlichen Dienstes. Währenddessen übertritt das Volk durch die Verehrung des goldenen Kalbes den bereits geschlossenen Bund. Jahwe erneuert den Bund und verkündet seine Vergebungsbereitschaft (vgl. die Lesungsperikope). Darauf folgt die Ausführung jenes Auftrags, der Mose bereits zuvor gegeben wurde. Die über dem Berg Sinai ruhende Wolke zieht über das Zeltheiligtum, welches gewissermaßen zu einem wandernden Ort der Gottesbegegnung wird.
Sieht man von der Stellung der Perikope in der Konstruktion des Buches Exodus ab, wird darin einmal mehr ein Licht auf die Gotteserfahrung geworfen, welche dem Volk Israel am Berg Sinai zuteil geworden ist: Jahwe erweist sich als der nahe und anwesende, als der ansprechbare und barmherzige Gott. Er hält an seinem Bund, an seiner Gemeinschaft mit Israel fest. Israel darf sich als sein Eigentum empfinden. Es ist seiner Treue und seinem Langmut anempfohlen.
Daß Gott einen Namen - Jahwe - hat, ergibt sich nicht von ungefähr. Im polytheistischen Kontext, in dem das Volk Israel lebte, war es wichtig den Namen eines bestimmten Gottes zu kennen, um ihn von den Göttern, welche die anderen verehrten, unterscheiden zu können. Außerdem hatte, wer den Namen eines Gottes kannte, Zugang zu diesem Gott. Man konnte ihn anrufen. Schließlich handelt es sich um einen sprechenden Namen, das heißt, es wurde mit ihm etwas über seinen Träger ausgesagt. Nach Ex 3,14 bedeutet Jahwe "Ich bin da", genauer: "Ich bin für euch da".
Diese Zusage erschließt sich dem neutestamentlichen Gottesvolk, der Kirche, auf besondere Weise. In Jesus Christus und im Heiligen Geist hat sich Gott ganz und gar als derjenige mitgeteilt, der für sein Volk und darüber hinaus für die ganze Menschheit da ist. Er wird sichtbar und spürbar. Er öffnet sein Innerstes und stiftet Gemeinschaft mit denen, die an ihn glauben. Der hl. Irenäus von Lyon hat den Sohn und den Geist als die "zwei Hände" bezeichnet, mit denen Gott-Vater in der Welt wirkt. Immer handelt es sich aber um denselben Jahwe-Gott, der sich Israel am Sinai offenbarte. Tief sind die Brunnen der Gotteserfahrung!
Die erste Lesung erzählt von einer Erscheinung Gottes vor Mose auf dem Sinai. Bemerkenswert ist der der Berg Sinai als Ort der Erscheinung, der Morgen als Zeitpunkt, die Wolke als Attribut Gottes sowie das Zeremoniell.
Der Berg Sinai ist der Ort der Gesetzesoffenbarung, der Berg Gottes schlechthin. Gott ist der Ferne, schwer zugänglich, nicht greifbar und verfügbar. Der unverrückbare Berg bürgt jedoch auch für Kontinuität, Beständigkeit über alle Zeiten hinweg.
Berg und Wolke sind jedoch auch die Attribute des kanaanäischen Fruchtbarkeitsgottes Baal. Der Verfasser hat trotz aller Vorbehalte gegen den Baalskult keine Probleme, die Attribute dieses Gottes für Jahwe in Anspruch zu nehmen.
Die Gotteserscheinung findet am Morgen statt. Dieses Moment könnte aus den Vorstellungen von Sonnengottkulten herrühren.
Die Gottesbegegnung läuft nach einem altorientalischen Hofzeremoniell ab. Mose allein ist für würdig befunden worden, Gott gegenüberzutreten und die Anliegen des Volkes vorzutragen.
Obwohl der Verfasser auf Gottesbilder anderer Kulturen zurückgreifen muß, stellt er damit den Gott Israels vor: Der ferne und zugleich nahe Gott. Zwar König und Richter, jedoch barmherzig und gnädig.
Feri Schermann (2005)
Martin Leitgöb (2002)
Hans Hütter (1996)