Jesus, der Gute Hirte
Jesus als der Gute Hirt – das ist sicher eines der bekanntesten Bilder von Jesus aus der Bibel: Der Hirt, der das verlorene Schaf auf seiner Schulter trägt; der Hirte, dessen Stimme von den Schafen erkannt wird; der inmitten einer Schafherde steht.
Jesus greift damit ein damals bekanntes Motiv auf: In seiner Gesellschaft gab es viele Nomaden; Menschen, die mit Familie und Hab und Gut herumgezogen sind – und für die ihre Schafe, Ziegen und Rinder lebensnotwendig waren. Die Sorge um die Schafe war gleichbedeutend mit der Sorge um den ganzen Lebensunterhalt.
Und dieses Motiv des Hirten prägt unser kirchliches Handeln bis heute: Hirte, im Lateinischen „pastor“, ist zur Berufsbezeichnung für die Leitungsämter in der Kirche geworden. „Pastoral“ bezeichnet das ganze Handeln der Kirche – und es ist somit unter das Vorzeichen der „Hirtensorge“ gestellt. - So weit – so gut.
Das Bild vom „Schaf“ irritiert heute
Zugleich irritiert mich dieses Hirtenbild: Denn es stimmt heute nicht mehr so recht. Wenn es nämlich einen Hirten gibt, dann gibt es auch eine Herde – und wer wird schon gerne als Herde oder als Schaf angesehen oder bezeichnet? Mit einer Schafherde verbinden wir heute eher etwas Romantisierendes – oder eine Herde von dummen, blökenden Schafen; und beides entspricht wohl nicht der eigenen Vorstellung von Kirche.
Das Bild stimmt nämlich nur dann, wenn wir auf Christus blicken: Denn er ist es, der uns versammelt; er ist der, der sein Leben für uns hingibt; der dem verlorenen Schaf nachgeht. Er ist es, der uns vorangeht und der uns, seine Herde, sein Volk, leitet.
Hirten sind zugleich Teil der Herde
All jene, die in seiner Nachfolge nun „Hirten“ sind, sind dies mit einem Unterschied: Sie sind alle zugleich auch Teil der Herde. Durch die Taufe sind wir alle Berufene: Wir sind gemeinsam zum Christsein berufen; wir sind zur alltäglichen Christus-Nachfolge gerufen, jeder und jede nach den eigenen Möglichkeiten. Wir sind alle dazu berufen, seine Spuren zu suchen und ihnen zu folgen; auf seine Stimme zu achten und auf sie zu hören.
Und innerhalb und im Dienst für uns alle gibt es dann die sogenannten „geistlichen Berufungen“, an die am 4. Ostersonntag besonders gedacht wird. Damit sind Menschen gemeint, die innerhalb der Kirche den Dienst übernehmen, diesem Jesus mit dem ganzen Leben nachzufolgen; sie übernehmen den Dienst, stellvertretend für die vielen, die durch ihre Familien, durch den Alltag etc. nicht dazukommen, den Dienst des Gebetes zu leisten.
Geistliche Berufung – die Stimme des Hirten ins Heute übersetzen
Eine geistliche Berufung anzunehmen – das bedeutet nicht, der bessere Christ zu sein, sondern in anderer Weise den Spuren Jesu zu folgen. Es bedeutet den Auftrag, diese Stimme des Hirten in der heutigen Zeit zu verdeutlichen; besser hörbar zu machen; manchmal auch zu übersetzen in die Sprache der heutigen Zeit.
Dass dies die Berufenen nicht über die anderen emporhebt, zeigen schon die Erzählungen der Apostelgeschichte: Die ersten Jünger, die Apostel, sie geben dem auferstandenen Jesus eine Stimme – und werden dafür verfolgt. Sie aber bleiben bei ihrem Auftrag: Licht für die Völker zu sein; der Verbreitung des Wortes Gottes zu dienen.
Berufung zur Nächstenliebe
Berufung zum Hirtendienst und Nachfolge Jesu bedeutet also zunächst, alle Menschen zu lieben, niemanden von vornherein auszuschließen. Und das ist wahrlich nicht einfach.
Jesus zu folgen heißt, den ersten Schritt zu machen: Nicht zu warten, bis der Nächste auf mich zukommt, sondern auf ihn, auf sie zugehen. Und hier zeigt Jesus eine Option: Er geht vor allem auf jene zu, die von anderen missachtet werden: Bettler, Sünder, Aussätzige...
Das Schwierigste aber ist das, was Jesus am Kreuz zeigt: Er liebt auch noch seine Feinde; er vergibt denen, die ihn umbringen. Den Nächsten, der meiner Meinung ist, kann ich leicht lieben – aber den, der anderer Meinung ist? Den, der gegen mich arbeitet?
Und damit wird deutlich, was eigentlich von jenen verlangt wird, die ihr Leben ganz in diesen Dienst Jesu stellen; die einen geistlichen Beruf ergreifen: Mit ihrem Leben und mit ihrem Wort sind sie aufgerufen, genau diese Fußspuren Jesu auch heute zu leben und sichtbar zu machen.
Berufung, das „Je mehr“ bewusst zu halten
Alle Statistiken in Österreich und Deutschland zeigen, dass die Zahl derer, die einen solchen Weg einschlagen, stetig zurückgehen; und dies gilt nicht nur für die Priesterberufungen, sondern vor allem auch für jene der geistlichen Schwestern und für viele Männerorden. Und doch braucht es auch in der Zukunft solche Menschen.
Denn sie stehen dafür, dass es mehr gibt als das, was wir sehen oder uns ausdenken. Geistliche Berufe halten dieses „Semper Maior“ aufrecht – die jesuitische Weisheit, dass Gott immer größer ist als das, was wir uns von ihm denken. Die evangelischen Räte – Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam, sind ja auch nur sinnvoll, wenn ich davon ausgehe, dass es dieses Mehr gibt.
Wir können Berufungen nicht machen und nicht erzwingen. Was wir tun können ist, dafür zu beten. Aber wir können auch im eigenen Umfeld einen Raum schaffen, dass solche Berufungen vielleicht wieder ein klein wenig wachsen können.