Kreuzenthüllung
"Seht das Kreuz, an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt." - Mit diesem Ruf wird in der Feier des Karfreitags nach dem Wortgottesdienst und den Großen Fürbitten das Kreuz in den Kirchenraum getragen und schrittweise enthüllt. Für unsere Sinne, Augen und Ohren, ist dies sicherlich der Höhepunkt der Karfreitagsliturgie. Und die Eindrücke, die wir durch unsere Sinne vermittelt bekommen, berühren unser Herz.
Die Enthüllung des Kreuzes ist ein Ritus, der uns in mehrfacher Weise Tiefendimensionen erschließt - über die Liturgie hinaus. Schauen wir zunächst auf den Weg Jesu. Denn die Enthüllung des Kreuzes spricht uns, so scheint mir, zuerst von Jesu eigenem Leben. Gewiss: Anzeichen des Kreuzes gab es in diesem Leben von Anfang an. Schon das Holz der Krippe verweist in zeichenhafter Weise auf das Holz des Kreuzes. Erst recht, dass ihm bereits als Kind von Herodes nach dem Leben getrachtet wurde. Als Jesus dann als erwachsener Mann in der Öffentlichkeit auftrat, gab es ebenfalls Anzeichen des Kreuzes, will heißen: der Ablehnung, ja der Verfolgung.
Zugleich aber konnte Jesus viele, außergewöhnlich viele Menschen in seinen Bann ziehen. Ich denke an die vielen, die ihm bei der Bergpredigt zuhörten; an die vielen, die bei der Brotvermehrung dabei waren; an die vielen schließlich, die sich von ihm die Heilung körperlicher Gebrechen erwarteten. Und immerhin, der engere Kreis um ihn herum betrug zwölf, der weitere Kreis zweiundsiebzig hoch motivierte Jünger. In der Anfangszeit seines Wirkens war vom Kreuz kaum etwas sichtbar, doch dann enthüllte es sich allmählich.
Geschändete Liebe
Je länger, desto mehr verstärkten sich die Zeichen der Ablehnung. Und nicht nur das: auch seelische Qualen kamen hinzu, gerade eben wegen jener Ablehnung. Muss es für Jesus nicht bitter gewesen sein zu sehen, dass das Heilsangebot Gottes, das er verkündete, von gar manchen in der Familie seines Volkes nicht wahrgenommen wurde? Und ebenfalls bitter, dass seine Botschaft des Friedens und der Gerechtigkeit vielerorts verhallte, geradeso als wären seine Worte in den Wind gesprochen. Seine übergroße Liebe wurde mehr und mehr nicht mit Gegenliebe beantwortet, sondern mit Ignoranz, ja mit Feindseligkeit geschändet. Das Kreuz, an das er angenagelt wurde, ist schließlich das äußerste, das letzte Zeichen dieser geschändeten Liebe.
Wenn wir das Leben Jesu unter der Perspektive des allmählich sich enthüllenden Kreuzes, also der immer deutlicher werdenden Ablehnung, der größer werdenden seelischen Qual, des immer stärkeren Leidens sehen, dann wir können wohl eine Brücke schlagen zum Leben mancher, vielleicht vieler Menschen heute. In der einen oder anderen Weise kennen wahrscheinlich die meisten das Phänomen der geschändeten Liebe: dass nämlich das eigene Gutsein keine Antwort findet oder dass unser Bemühen um das Wohl anderer oder des Gemeinschaftsganzen abgelehnt, verächtlich gemacht oder ignoriert wird, schließlich dass Hass regiert, nicht Versöhnung, Neid und Missgunst, nicht Zusammenarbeit, Konkurrenz, nicht Freude am Tun und Sein des anderen. Solche Kreuze enthüllen sich in unserem Leben ebenfalls schrittweise. Sie sind nicht immer gleich von Anfang an sichtbar.
Alle Kreuze, alle Leiden der Welt enthüllen sich schrittweise. Wäre das Scheitern einer Ehe von Anfang an klar - niemand würde eine solche Ehe eingehen. Wären für Eltern die Mühen der Kindererziehung deutlich, wohl nicht wenige würden sich nicht dazu entschließen können, Kinder zu bekommen. Ähnlich ist es mit mancher Situation im Beruf, mit manchen Aufgaben, die wir für das Wohl einer Gemeinschaft oder Gemeinde übernehmen, ja selbst mit manchem Ideal, für das wir uns ganz persönlich entschieden haben, es zu verfolgen. Die Kreuze enthüllen sich schrittweise. Gar nicht zu reden von den Kreuzen der Krankheit, der Behinderung, der Verfolgung um des Glaubens willen, der Armut, des Alleinseins …
Im Kreuz ist Heil
Doch wenn wir auf diese Weise das Leben Jesu betrachten und dann auch unser eigenes, so rückt unweigerlich eine zweite Enthüllung in den Vordergrund. Nicht nur das Leiden kann im Leben schrittweise sichtbar und spürbar werden. Es kann im Leiden schrittweise auch etwas anderes sichtbar und spürbar werden, nämlich dass das Kreuz, wie es unser Glaube bekennt, ein Zeichen des Heils ist, so wie es der liturgische Ruf ausdrückt: "Seht das Kreuz, an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt."
Nicht immer ist diese Erfahrung sofort spürbar. So war es nicht bei Jesus, so wird es nicht bei uns sein. Wir sehen aber an ihm, dass das Leid zu einer Quelle wird. Aus seiner Seite floss Blut und Wasser. Ohne seine tiefe Verwundung keine Sakramente der Kirche, denn Blut und Wasser - das sind Taufe und Eucharistie. Ein größeres Heilsangebot hat er den Menschen nie gemacht. So sind wir als Christen zunächst einmal eingeladen und aufgefordert, unsere ganz persönlichen Kreuze mit dem seinen zu verbinden. Christen aller Zeit schöpften daraus tiefen Trost, ja Hoffnung und Zuversicht, auch wenn sich vielleicht äußerlich an ihrer Situation wenig änderte. Aber um einen Gott zu wissen, der in seinem eingeborenen Sohn mit-leidet, das kann uns in unserem Leiden ungeheuer stärken.
Zum Schluss müssten wir noch von einer weiteren Dimension der Kreuzesenthüllung sprechen: nämlich das wir uns bemühen sollten, anderen Menschen mehr und mehr das Kreuz als Zeichen des Heiles zu enthüllen. Doch in der Feier des Karfreitags wollen wir zunächst selbst Trost schöpfen aus dem Leiden Christi und ihm geben, was wir ihm schulden: Liebe, weil er uns geliebt hat bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.