1. Lesung vom Fest Mariä Geburt:
Mi 5,1-4a
Lesung aus dem Buch Micha:
So spricht der Herr:
Du, Betlehem-Efrata, so klein unter den Gauen Judas,
aus dir wird mir einer hervorgehen,
der über Israel herrschen soll.
Sein Ursprung liegt in ferner Vorzeit,
in längst vergangenen Tagen.
Darum gibt der Herr sie preis,
bis die Gebärende einen Sohn geboren hat.
Dann wird der Rest seiner Brüder heimkehren zu den Söhnen Israels.
Er wird auftreten und ihr Hirt sein in der Kraft des Herrn,
im hohen Namen Jahwes, seines Gottes.
Sie werden in Sicherheit leben;
denn nun reicht seine Macht bis an die Grenzen der Erde.
Und er wird der Friede sein.
Im Jahr 586 vor Christi Geburt wurde Jerusalem von den Babyloniern erobert, zerstört und die Jerusalemer Oberschicht nach Babylon deportiert. Das Königreich Israel ist von der Landkarte verschwunden und kein König aus dem Hause David regierte mehr, sondern ein persischer Statthalter verwaltete das Land. Interpretiert wurden diese Ereignisse als Folge der Nichtbeachtung der vorangegangenen Mahnungen mehrerer Propheten.
In diese Situation hinein, in der das Volk Israel in der babylonischen Gefangenschaft leidet und auf einen Neubeginn hofft, ergeht das Prophetenwort der heutigen ersten Lesung.
Ein Herrscher neuer Qualität wird in diesem Text angekündigt. Dieser wird nicht aus der Hauptstadt Jerusalem, sondern aus dem geradezu unbedeutenden "Landstädtchen" Betlehem kommen. In diesem neuen Zeitalter wird das Volk nach Hause zurückkehren, in Sicherheit leben und Frieden wird herrschen - noch ist es aus Sicht des Verfassers unseres Textes aber nicht so weit, im Moment wird dieses Heil erst angekündigt.
Es handelt sich um einen der klassischen messianischen Texte des Alten Testaments. Von den meisten Exegeten wird er in die Zeit des babylonischen Exils datiert. Den Hintergrund bildet somit die Erfahrung, dass sich das Gottesvolk trotz vieler Mahnungen der Propheten immer wieder von seinem Herrn abgewandt hat und eigenen Wegen gefolgt ist, die letztlich in die Katastrophe geführt haben: Jerusalem wurde 586 v. Chr. zerstört, maßgebliche gesellschaftliche Kreise wurden nach Babylon deportiert.
Vor diesem Hintergrund entsteht die Hoffnung auf einen Herrscher ganz neuer Art, der sein Volk in eine messianische Friedenszeit führt. Nicht aus der Hauptstadt Jerusalem wird er kommen, wie die früheren Könige, sondern aus der Heimat Davids, dem unbedeutenden Bethlehem, das hier um den Flurnamen „Efrata“ ergänzt wird, der soviel wie „fruchtbares Land“ bedeutet. Aus kleinen Anfängen kann Großes werden. Die gegenwärtige Zeit wird dabei durchaus noch als schmerzvoll empfunden, denn noch ist Israel eine preisgegebene Gebärende, die in Schmerzen liegt, doch in prophetischer Weise wird bereits ein neuer Anfang verheißen, dessen sichtbares Zeichen die Heimkehr aus dem Exil nach Jerusalem, an den ursprünglichen Ort der Gottesverehrung, ist. Vom neuen Herrscher selbst heißt es, dass er der Friede sein wird. Im hebräischen Urtext steht hier „Shalom“, ein Wort, das über die landläufige Bedeutung von Frieden weit hinausgeht und auch Dimensionen wie Heil, Wohlergehen, Gesundheit, Glück, Leben in rechter Ordnung etc. miteinschließt.
Die meisten alttestamentlichen Exegeten nehmen an, dass dieser Text in der Zeit nach dem Exil Israels entstand. Nach der Zerstörung Jerusalems 586 n.Chr. wurde die Oberschicht nach Babylon verschleppt. Bei ihrer Rückkehr gab es das Königreich Israel nicht mehr, es war zu einer persischen Provinz geworden, die nicht mehr von Königen aus dem Haus Davids regiert, sondern von einem Beamten des persischen Reichs verwaltet wurde. In biblischer Zeit erlangte Israel nie wieder seine Selbständigkeit.
Unsere Perikope gehört zu den messianischen Verheißungen, die in dieser Epoche entstanden. In der Zeit der Fremdherrschaft begann man sich nach einer neuen Zeit zu sehnen, in der Israel wieder frei sein würde wie damals. Verschiedene Propheten sprachen dem Volk Mut zu und erinnerten es daran, dass Jahwe sein Volk nicht im Stich lassen werde. Allerdings hütete man sich davor, einfach die alten Zeiten zu verklären. Zu genau hielt sich die Erinnerung an die Schattenseiten der Königszeit: die Kriege, die Willkür mancher Könige und die schier unüberbrückbare Kluft zwischen von Arm und Reich. Das Neue, dass man erhoffte, war nicht einfach eine Wiederauflage des Alten. Die Texte verheißen einen König ("Messias") der ganz anderen Art, der Gerechtigkeit und Frieden sichert und sich um sein Volk sorgt wie ein Hirt, der seine Herde weidet. Sie sprechen von einer neuen, friedlichen und gerechten Art des Zusammenlebens.
Der kleine Ausschnitt aus dem Buch des Propheten Micha knüpft zunächst an die Vergangenheit Israels an: In grauer Vorzeit nahm in dem kleinen Ort Bethlehem die Dynastie Davids ihren Anfang, die danach Jahrhunderte lang Juda beherrschte. Von dort wird auch die neue Zeit ihren Anfang nehmen. Dazwischen, so der Prophet weiter, liegt eine Zeit, in der Jahwe Israel preisgibt: das Exil und die Fremdherrschaft. Alles ändert sich, sobald der verheißene König geboren wird (hier, in Vers 3 wird wohl auf die viel ältere Verheißung bei Jes 7 angespielt). In diesem König wird Jahwe selber handeln. Er wird sein Volk zusammenrufen und eine neue Art von Frieden schaffen: Friede, der nicht dadurch entsteht, dass strenge Reichsgrenzen gezogen, verteidigt und gesichert werden, sondern Friede, der "von innen heraus", von diesem neuen König, und letztlich aus der Kraft Gottes, die in ihm wirkt, ausgeht. Diese Friedensmacht des Königs löst die Grenzen Israels auf und breitet sich von dort überall aus bis an die Grenzen der bewohnten Welt.
Reine Wunschphantasien eines unterdrückten Volkes? Ich glaube, dass es um mehr geht: Der Text spricht die Ursehnsucht des Menschen nach dauerhaften Frieden an. Und er formuliert das Bekenntnis, dass Jahwe diese Sehnsucht stillen kann. Er kann die Beziehungen der Menschen so verwandeln, dass diese versöhnte und befriedete Art des Miteinanders die notwendigen Grenzen und Verteidigungslinien einzelner Gruppen und Nationen überflutet, überflüssig macht und auflöst.
Bernhard Zahrl (2009)
Martin Leitgöb (2006)
Antonia Keßelring (2003)