Lesung aus dem Buch Jesaja.
Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben,
er wird sich erheben
und erhaben und sehr hoch sein.
Wie sich viele über dich entsetzt haben -
so entstellt sah er aus,
nicht mehr wie ein Mensch,
seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen - ,
so wird er viele Nationen entsühnen,
Könige schließen vor ihm ihren Mund.
Denn was man ihnen noch nie erzählt hat,
das sehen sie nun;
was sie niemals hörten,
das erfahren sie jetzt.
Wer hat geglaubt, was wir gehört haben?
Der Arm des HERRN - wem wurde er offenbar?
Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross,
wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden.
Er hatte keine schöne und edle Gestalt,
sodass wir ihn anschauen mochten.
Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm.
Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden,
ein Mann voller Schmerzen,
mit Krankheit vertraut.
Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt,
war er verachtet;
wir schätzten ihn nicht.
Aber er hat unsere Krankheit getragen
und unsere Schmerzen auf sich geladen.
Wir meinten, er sei von Gott geschlagen,
von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen,
wegen unserer Sünden zermalmt.
Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm,
durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe,
jeder ging für sich seinen Weg.
Doch der HERR ließ auf ihn treffen
die Schuld von uns allen.
Er wurde bedrängt und misshandelt,
aber er tat seinen Mund nicht auf.
Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt,
und wie ein Schaf vor seinen Scherern verstummt,
so tat auch er seinen Mund nicht auf.
Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft,
doch wen kümmerte sein Geschick?
Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten
und wegen der Vergehen meines Volkes zu Tode getroffen.
Bei den Frevlern gab man ihm sein Grab
und bei den Reichen seine Ruhestätte, '
obwohl er kein Unrecht getan hat
und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.
Doch der HERR hat Gefallen an dem von Krankheit Zermalmten.
Wenn du, Gott, sein Leben als Schuldopfer einsetzt,
wird er Nachkommen sehen und lange leben.
Was dem HERRN gefällt, wird durch seine Hand gelingen.
Nachdem er vieles ertrug,
erblickt er das Licht.
Er sättigt sich an Erkenntnis.
Mein Knecht, der gerechte,
macht die Vielen gerecht;
er lädt ihre Schuld auf sich.
Deshalb gebe ich ihm Anteil unter den Großen
und mit Mächtigen teilt er die Beute,
weil er sein Leben dem Tod preisgab
und sich unter die Abtrünnigen rechnen ließ.
Er hob die Sünden der Vielen auf
und trat für die Abtrünnigen ein.
Das 4. Knecht-Gottes-Lied, das von Deuterojesaja überliefert wird, stellt eine Figur vor, die sich historischen Zuordnungen entzieht. Mitten im Exil, dass das Volk Gottes in Babylon erleidet und durchsteht, wird der Knecht Gottes vorgestellt: Seine Gestalt ist von Leiden gezeichnet, aber es ist fremdes Leiden, das er – stellvertretend – auf sich nimmt. „Unsere Sünden“ sind es, die er trägt. In diesem Lied wird auch der Ungehorsam des Volkes Gottes auf dem zerschundenen Körper des Knechtes sichtbar gemacht. Nur: wer ihn sieht, erschrickt vor ihm, wendet sich angewidert und hilflos ab – sieht selbst aber nicht, welche Rolle er in dieser Geschichte spielt. In diesem Lied verlieren die Augen ihre Unschuld. Sie, die die Welt an Schönheit und Erfolg messen, werden einer Schuld ansichtig, in die Menschen tief verwickelt sind.
Aber das Lied weiß auch von einer großen Zuversicht: Jahwe findet Gefallen an seinem Knecht, macht ihn groß und rettet ihn. Von ihm heißt es: „Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht.“ Nicht nur das Leiden, sondern auch die Auferstehung (wie wir übersetzen dürfen) ist bei ihm stellvertretend zu erblicken.
Einer der ältesten Hymnen greift die Linien, die im 4. Knecht-Gottes-Lied auf vielfältige Weise verwoben sind, auf: Es ist der Christus-Hymnus, den Paulus in seinem Brief an die Gemeinde zu Philippi überliefert (2:5 ff.). Wenn auch der Knecht Gottes, der im Buch des 2. Jesaja Israel neu zu seiner Berufung verhilft, für uns nicht fassbar ist, so bekommt er doch in Jesus und seinem Geschick ein Gesicht:
Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen.
Der erste Vers der alttestamentlichen Lesung stellt einen neuen Einsatz mit der Gottesrede und der Aufforderung zum Sehen dar. Jahwe lenkt den Blick auf seinen Knecht. Dazwischengeschoben ist der Bericht eines anderen über das Leiden jenes Knechtes. Die Gottesrede selbst setzt mit "Mein Knecht" wieder ein. Eingerahmt von der Zusage Gottes werden die Verachtung und die Schmerzen des Gottesknechtes breit entfaltet. Dann macht sich ein Wechsel in der Darstellungsweise bemerkbar: Weg von der Vordergründigkeit werden nun die Hintergründe des Leidens durchschaut: Aus dem blossen "Meinen" wird die Gewissheit "Für uns": wegen unserer Krankheit und unserer Schmerzen, wegen unserer Sünden, zu unserem Heil, die Schuld von uns. Dann wird betont, dass der Gottesknecht all das Leid zu dem wortlos auf sich genommen hat. Seine Gefühle, sein Leid spielen keine Rolle. Es geht allein darum, den Plan Gottes zu erfüllen. Die Zwischenrede findet sein Ende in der Gewissheit, dass dieser getreue Knecht seinen Lohn erhalten wird. Zusammengefasst: Von der Vordergründigkeit der Oberflächlichkeit des Betrachters durch das Hintergründige des Warum auf die Verheißung einer licht- und heilvollen Zukunft.
Als alttestamentliche Lesung des Karfreitagsgottesdienstes ist das sog. vierte Lied vom Gottesknecht aus dem Jesaja-Buch vorgesehen. Die vier Gottesknechtslieder dürfte der Verfasser des zweiten Teiles des Jesajabuches bereits als zusammengehörige Überlieferungseinheit vorgefunden und an vier Stellen in sein Werk eingefügt haben. Als Verfasser des zweiten Teiles des Jesajabuches wird ein Schüler des "ersten" Jesaja in Betracht gezogen. Er lebte vermutlich im babylonischen Exil und suchte in seinen prohetischen Texten dem Volk in der Gefangenschaft Hoffnung zu geben.
Ähnlich unklar wie die Person des "zweiten" Jesaja ist die Gestalt des Gottesknechtes, von dem die vier Gesänge erzählen. Ist mit dem Gottesknecht das in der Verbannung lebende Volk Israel selbst gemeint? Ist es der zweite Jesaja selbst? In diesem Falle hätten seine Jünger den vierten Gesang verfaßt. Dies läßt sich heute nicht mehr feststellen.
Ebenso interessant wie die Person des Gottesknechtes ist die Theologie, die in diesen Liedern, vor allem im vierten dargeboten wird. Das Lied erzählt von einem Knecht, der im Ansehen der Menschen so weit abgesunken und erniedrigt ist, daß er als verachtet und auch von Gott verlassen gelten mußte. Seine Krankheit, seine Schmerzen, sein schlechtes Aussehen konnten damals nur als von Gott Verlassensein und als Strafe Gottes verstanden werden.
Doch da kommt die Wende: Er hat die Erniedrigung nicht als Strafe für seine eigene Schuld erlitten, sondern er hat "unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen". Sein Leiden ist nicht als Strafe zu betrachten sondern als Sühne für die Schuld anderer, für unsere Schuld. Sein Leiden wird geschildert in der Art, wie in den Klagepsalmen Leidende ihr unverdientes und Unverstandenes Leid vor Gott zur Sprache bringen.
Die zweite überraschende Wende setzt ein, wenn gesagt wird: Der geschlagene Knecht findet Gefallen bei Gott. Sein Leben wird durch Nachkommenschaft und lange Dauer gesegnet.
Die Gottesknechtslieder dienten den Christen der ersten Generation als Verstehenshilfe für das unverstehbare Schicksal Jesu. Sie sahen in ihm den Gottesknecht, der trotz aller Redlichkeit die Schmach des Verbrechertodes zu erleiden hatte. Sie verstehen sein Leiden als Sühneleiden und als Weg zur Erhöhung durch Gott.
Manfred Wussow (2006)
Gabi Ceric (1999)
Hans Hütter (1998)