Die Mitte hat es in sich
Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an Ihren Schulunterricht und das, was Sie alles auswendig lernen mussten oder sogar auch noch auswendig lernen müssen. Eine von vielen Definitionen, die ich lernen musste, war diese: "Ein Kreis ist die Menge aller Punkte, die von einem Punkt, dem Mittelpunkt, den gleichen Abstand haben." Und ich weiß noch gut, wie ich mir als Jugendlicher wünschte, dass dies in der Weltgemeinschaft doch genauso sein könnte. Beim Zirkeln zeichnete sich dann vor mir auf dem Papier das ab, was auch vielfach eine Wirklichkeit in unserer Gesellschaft ist: Der Mittelpunkt dient als Ausgangspunkt für die Randbestimmung!
Aber nicht nur in der Geometrie spielt die Mitte eine Rolle: In der Zeit der "Lebensmitte", das wissen wir, verengen sich die Wege. Es ist eine Übergangszeit, die für uns körperliche Veränderungen und neue Verantwortungen mit sich bringt. Dazu zählt die Fürsorge für die Enkelkinder ebenso wie das Dasein für die älter werdenden Eltern.
Und auch das gibt es: Viele ziehen nach der ersten Lebenshälfte Bilanz und wagen einen neuen Aufbruch in der Lebensmitte und sagen: "Jetzt oder nie!"
Wenn wir bisweilen von einem Menschen sprechen, der seine Mitte gefunden hat, dann meinen wir damit zumeist einen ausgeglichenen, in sich stimmigen Menschen.
Der Mensch, von dem unser Evangelium heute erzählt, war dies wohl schon lange nicht mehr; er hatte seine Mitte verloren. Er war aus der Mitte herausgefallen. Für ein "Jetzt oder nie!" fehlte ihm nicht nur der Mut, sondern auch die Kraft. Ich möchte Sie gerne einladen, sich mit mir ein wenig in diesen Menschen hinein zu versetzen.
Ein Mensch, der seine Mitte verlor
Für den Mann im Evangelium, es könnte auch genauso gut eine Frau gewesen sein, war es ein schlimmer Schicksalsschlag, der nicht nur die Hand leblos werden ließ, sondern allmählich seinen ganzen Körper erfasste, und was ihn wohl noch mehr schmerzte, auch seine Seele. Vielleicht hatte er, bevor ihn dieser Schicksalsschlag ereilte, noch Freunde gehabt, vielleicht hatte er vor seinem Unglück noch vieles in die Hand genommen mit der ihn einst auszeichnenden Kreativität. Und nun war alles anders geworden, - nicht von heute auf morgen, sondern Tag für Tag verdorrte er mit der körperlichen Krankheit auch seelisch immer mehr, fühlte er sich in seinem Menschsein reduziert.
Wir kennen das gut, wenn wir oder Menschen um uns herum von Krankheiten oder Schicksalsschlägen heimgesucht werden.
Allerdings: Im Evangelium ist dieser Mensch dort anzutreffen, wo heute die wenigsten Außenseiter der Gesellschaft zu finden sind: Im Gotteshaus, damals in der Synagoge. Hier traf man sich! Hier pulsierte das Leben, hier wurde gebetet und gesungen, so wie heute, hier wurden die Lehren und Gesetze der Thora verlesen, - hier wurde verkündet, was den Schriften gemäß am Sabbat, dem jüdischen Feiertag, sein durfte, und was zu unterbleiben hatte.
Und an diesem Tag war Sabbat. Der in seinem Menschsein reduzierte und äußerlich und innerlich verdorrte wusste: Heute hatte er keine Chance, geheilt zu werden. Heute war Gottesdienst angesagt! Heute musste in der Synagoge der Glaube gefeiert werden!
Heute hörte er zwar wie an den anderen Festtagen, die ermutigenden Worte von dem Gott, der die Freiheit seiner Geschöpfe will, und der möchte, dass sie wenigstens einmal in der Woche aufatmen sollen und dass der Sabbat für den Menschen und zu seinem Heil-Werden da ist ...! - Aber er wusste auch: die Menschen schienen im Laufe der Zeit dies immer mehr zu vergessen... Nein! Heute hatte er keine Chance auf Heilung.
Jesus stellt den Not Leidenden in die Mitte
Und genau diesen Menschen, so haben wir es vorhin gehört, der von den Vielen übersehen wurde, sieht Jesus. Er nimmt ihn wahr in seiner prekären Lebenssituation. Und dann wagt er das schier Unmögliche: Jesus stellt ihn die Mitte der Synagoge. Und das heißt im Grunde: Jesus stellt diesen Menschen an den Platz, der sonst dem Wort Gottes, der Thora, vorbehalten ist.
Damit macht Jesus den Umstehenden von damals ein für allemal deutlich, dass über der buchstabengetreuen Beobachtung des Gesetzes die Freiheit seines liebenden Herzens steht, und dass Gott eigentlich nicht gedient wird, wenn die Not des anderen Menschen übersehen wird, weil Gott jederzeit - an jedem Tag und zu jeder Stunde - vor allem auf das Wohl des Menschen bedacht ist, - dass es also keine Zeit gibt, zu der Gott vom Menschen erwartet, dass er der Mensch, ihm den Vorrang einräumt: Gottesdienst ist zu aller erst Menschendienst!
Das ist der Kern des ganzen Evangeliums Jesu. Der rote Faden, der sich durch sein Leben und Wirken hindurch zieht. Das ist der Boden, auf dem wir stehen, die Grundlage allen Tuns in Kirche und Gemeinde: den Menschen in die Mitte stellen und damit dem Menschen in Not den Stellenwert geben, den Gott ihm gegeben hat. Von Anfang an.
Die Kirche Jesu Christi ist diakonische Kirche
Wissen wir noch um diese Grundlagen? In unserer Kirche und unseren Gemeinden beschäftigt uns so vieles. Manchmal werde ich den Verdacht nicht los: Wird das Nebensächliche zur Hauptsache und die Hauptsache zur Nebensache degradiert? - Und zu einem großen Teil sind wir auch mit uns selbst beschäftigt! Jedoch: Ist das, was uns antreibt der Auftrag des Evangeliums, im Geist Jesu Christi den Menschen vom Rand weg in die Mitte zu holen?
In seiner Enzyklika "Deus caritas est" schreibt Papst Benedikt ganz unmissverständlich: "Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtstätigkeit, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Ausdruck ihrer selbst." (Dce 25). Damit wird deutlich: Gottes Liebe gilt nicht zuerst festlicher Liturgie mit Weihrauch, Chorgesang und "Orgelgebrause". - Freilich: es ist gut, dass es das gibt, weil mir all das auch hilft, mich für Gott zu öffnen und meinen Lobpreis zum Ausdruck zu bringen! - Dennoch:
Gottes Liebe gilt dem Alltag, dem, was Menschen - mit Leib und Seele - ausmacht. Christlicher Glaube und christliches Handeln werden dort "handfest" wo es genauso handfest zur Sache geht:
Z.B. in der Schuldnerberatung, im Migrationsdienst oder in der Arbeit mit alten Menschen wird die christliche Einstellung spürbar. Weil dort Menschen wie im Evangelium in der Mitte stehen.
Christliche Einstellung wird also nicht erst im Feiern eines Gottesdienstes sichtbar. Das fängt viel früher an! In ganz alltäglichen Bezügen - im Beratungsgespräch ebenso wie in einer Kinderfreizeit oder einem Hausbesuch. Dort zeigt sich diejenige Liebe Gottes in den Menschen, von der die Verkündigung hier in der Kirche spricht und die der Gottesdienst feiert.
Deshalb verhilft die Enzyklika, nicht nur dazu die alltägliche Caritas-Arbeit, sondern alles was Menschen füreinander tun in ihrer Bedeutung zu schätzen. Jeder kann sich im Zentrum kirchlichen Lebens wissen - selbst dann, wenn das Wort Gott bei ihrem alltäglichen Handeln nicht fällt. Papst Benedikt macht in seiner Enzyklika immer wieder deutlich: Gott zeigt sich mit seiner Liebe im Alltag - und das besonders in der Haltung derjenigen, die seine Liebe weitergeben.
"Deus caritas est" spricht von verschiedenen Stufen der Verkündigung: "Der Christ weiß, wann es Zeit ist, von Gott zu reden, und wann es recht ist, von ihm zu schweigen und nur einfach nur die Liebe reden zu lassen." (Dce 31)
Vielen Menschen erscheinen Kirche und Caritas in Deutschland als eine Art "Großkonzern", die den "Kleinen" übersieht, die Worte verkündet, die mit dem Alltag der Menschen nichts mehr zu tun haben und denen man durchaus mit Vorbehalt und damit auch mit Vorsicht begegnet. Anders ist es, wenn Menschen von der Kirche "Gesichter" sehen - und nicht nur das des Papstes, des Bischofs, des Pfarrers!
Beispiele für den Einsatz für Menschen in Krisensituationen
Das ist hier in dieser Gemeinde und an vielen anderen Orten so, wo Menschen immer wieder bereit, einen Teil ihrer Zeit zu verschenken, um kranke und einsame Mitbürgerinnen und Mitbürger zu besuchen oder ihnen hilfreiche Dienste zu leisten. - Meist oft im Stillen, ganz unspektakulär! Meist oft so, dass das, was getan wird, nicht an die große Glocke gehängt und von den Spatzen von den Dächern gepfiffen oder gar im Pfarrbrief veröffentlicht wird. Andere treffen sich regelmäßig mit Fremden, um ihnen hierbei ein wenig die Schritte in eine neue Heimat zu erleichtern. Oder Menschen sind bereit, sich in verschiedenen Gremien für soziale Belange zu engagieren.
Ihr Dienst ist für viele Menschen, besonders für die, die sich schwer tun mit dem Glauben und der Kirche, ein unverzichtbares Glaubenszeugnis, von dem Gott, der den Menschen in seiner Not nicht allein lässt und damit zugleich eine elementare Erfahrung, die Zugänge zum Glauben eröffnen bzw. nach schlimmen Erfahrungen wieder eröffnen kann.
Paulus hat es im Jakobusbrief, unserer Lesung, auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt: "So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat." (Jak 2, 17)
Aber Sie alle, kennen auch Situationen, in denen uns Schicksale der Menschen auch in unseren Werken, die wir für sie tun, überfordern können. Schnell werden wird dann zu "hilflosen Helfern". In all diesen Situationen unterstützt der Caritasverband die Gemeinden und wirkt mit den haupt- und ehrenamtlichen Helferinnen- und Helfern zusammen.
Wenn ich mit unserem Evangelium von "verdorrten Menschen" spreche, dann denke ich an
» den arbeitslosen Familienvater, dem die Caritas-Schuldnerberaterin Wege aus der Überschuldung aufzeigt und so ihm und zugleich seiner ganzen Familie Hoffnung gibt;
» das alte, pflegebedürftige Paar, das durch die Hilfe der Sozialstation zusammen in seiner Wohnung bleiben kann;
» den Jugendlichen im sozialen Brennpunkt, der in einem Beschäftigungsprojekt Arbeit und damit eine Chance für seine Zukunft erhält;
» den Fremden, der aus welchen Gründen auch immer in unser Land gekommen ist, dem geholfen wird bei Behördengängen und beim Erlernen unserer Sprache und Lebensart.
Er kann die Erfahrung machen, dass die große Mehrheit der Deutschen gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und gegen jeden Rassenwahn ist;
» die junge Familie mit ihrem Kleinkind, der die Pfarrgemeinde unbürokratisch materielle Unterstützung gegeben hat;
» die junge Frau, die in einer scheinbar ausweglosen, verzweifelten Situation in einer der kath. Schwangeren- und Schwangeren-Konflikt-Beratungsstellen Rat und Hilfe findet.
Diese Hilfen, die ich hier nur als Beispiele für die zahlreichen Dienste der Caritas genannt habe, werden mitgetragen durch die alljährlich wiederkehrende Caritas-Sammlung und die Caritas-Kollekte.
Natürlich: Einen Menschen vom Rand in die Mitte holen, das ist zuerst eine innere Haltung. Allerdings, und das wissen wir alle, geht das oft nicht ohne die notwendigen finanziellen Mittel, um fundamentale Rahmenbedingungen zu ermöglichen, dass kompetent und dauerhaft geholfen werden kann bzw. dass Hilfe zur Selbsthilfe möglich wird.
Die einen Spenden wertvolle Zeit, - die anderen Geld. Manche spüren auch das Geld, das sie für andere geben. Beides, das Geld und die Zeit, also das, was von Ihnen vor Ort für den Menschen in Not getan wird, schafft die Voraussetzung dafür, dass Menschen wieder vom Rand in die Mitte des Lebens kommen können und neues Leben möglich wird.
Damit wird für diese Menschen die Liebe Gottes, und das ist Caritas im ursprünglichen Sinn, erfahrbar. Alle großen Ideale, alle Ideen, die wir in unserem Sozialstaat und in der Kirche haben, um den Herausforderungen der Zukunft begegnen zu können, müssen sich messen lassen an der täglichen Zuwendung, an der Bereitschaft, jemanden anzusehen, um ihm Ansehen zu vermitteln.
Regina Wagner (1997)