Die Frage Jesu "Für wen halten mich die Leute?" ist weniger ein Stimmungstest als vielmehr eine Evaluierung: Was ist von meiner Predigt bis jetzt angekommen? Die Wirkung war erwartungsgemäß unterschiedlich. Den Jüngern gegenüber verhält sich Jesus wie ein Lehrer. Er gibt sich noch nicht mit dem "Lernfortschritt" zu frieden. Sie müssen erst noch den ganz anderen Weg und die ganz andere Vorstellung des Messias kennenlernen.
Meinungsumfaragen, Zuschauerquoten, Stimmungsbarometer
„Für wen halten mich die Leute?“ (Lk 9,18b) Diese Frage Jesu klingt für mich zunächst wie aus einer Meinungsumfrage genommen: Wie ist es mit der Gunst des Volkes für die Partei, für den Politiker, für eine bestimmte Zeitung bestellt? Nach der Meinung der Leute zu fragen, ist heute gang und gäbe: In der Wirtschaft, in den Medien, in der Politik ist man sehr stark abhängig von der Meinung der Leute, von Zuschauerquoten und Stimmungsbarometern.
Die Meinung der Leute
Wenn Jesus fragte: „Für wen halten mich die Leute?“, dann ging es ihm meiner Meinung nach nicht darum, ob möglichst viele Menschen eine gute Meinung von ihm hatten oder zu ihm hielten; er wollte wohl eher aus dem Mund der Jünger hören, was von seiner Botschaft bei den Leuten angekommen ist. Und die Jünger berichten nun Jesus von dem, was sie gehört haben: Die Menschen halten Jesus für Johannes den Täufer oder für einen Propheten.
Damit liegen sie ja nicht ganz falsch: Denn die Botschaft Jesu ist eine Mahnung zur Umkehr und eine Verheißung von Befreiung. Jesus hat Worte, die die Unterdrückten aufrichten und Blindheiten und Zwänge von den Menschen nehmen. Kein Wunder, dass viele nachzudenken beginnen und in der Schrift nachlesen, wann denn ähnliches geschehen ist.
Und da lesen sie vom Propheten Elija, der Wunder gewirkt hat und der schließlich nicht gestorben ist, sondern in den Himmel entrückt wurde (2Kön 2). Sie vergleichen die Worte und Taten Jesu mit denen der Propheten, die sich ebenfalls gegen erniedrigende Machtstrukturen gewandt haben. Und der Schluss legt sich daher für viele nahe: Dieser Jesus ist ein wiedergekommener Prophet. Er wirkt dieselben Wunder wie diese.
Die Meinung der Jünger
Die Meinung der Leute, ihre Antworten, sind Jesus aber zu wenig. Er fragt seine engsten Begleiter; er fragt jene Personen, die seine Botschaft weitertragen werden, um ihr ganz persönliche Meinung: „Für wen haltet ihr mich?“ Halten sie ihn auch nur für einen in der Reihe der Propheten? Haben wenigstens sie verstanden, wer er wirklich ist?
Petrus bekennt sich stellvertretend für alle dazu, dass Jesus die Erfüllung der prophetischen Verheißungen ist: Wir halten dich „für den Messias Gottes!“ (Lk 9,20) Damit hat er den Kern der Botschaft Jesu getroffen.
Man würde sich nun eine Bestätigung dieser Aussage des Petrus erwarten, ein Lob aus dem Mund des Meisters – doch Jesus korrigiert das Bild, das die Jünger sich von ihm machen: Wenn Petrus ihn für den Messias hält, dann meint er nämlich: Jesus wird das politische Reich Davids neu errichten (2Sam 7,12-16), er wird aktiv eingreifen in die Tagespolitik. Genau das, was sich heute so viele wünschen: Den starken Führer, den Mann, der durchgreift mit starker Hand …
Der Weg des Messias ist nicht Prunk, sondern Leid
Das Verständnis Jesu vom Messias, vom „Menschensohn“ unterscheidet sich aber wesentlich von dem der Menschen und der Jünger. Er spricht nicht von Herrschaft oder von Macht, sondern davon, dass er leiden wird und getötet werden muss; dass er aber am dritten Tag auferweckt werden wird.
Jesus spricht nun nicht mehr vom Messias, der herrschende politische Strukturen ändern wird; er möchte die Menschen selbst ändern, von innen her. Dabei ist er nicht einer, der Weisungen und gute Ratschläge erteilt; nicht ein Herrscher, der andere für sich in den Kampf schickt. Das Leid der Menschen lässt Jesus nicht unberührt. Er steigt selbst bis in die tiefsten Abgründe des menschlichen Lebens hinab: Er nimmt das Leid, das Kreuz und sogar den Tod auf sich – und gerade deshalb ist der Mensch auch in seinen tiefsten Abgründen nicht alleingelassen – denn er trifft dort Christus, der den Menschen aus dem Leid und dem Tod in die Auferstehung mitnimmt. Jesus geht es nicht um ein kurzfristiges, ein nur oberflächliches Heil, sondern um eine grundlegende Heilung des Menschen von der Wurzel her.
Die Versuchung: Steig herab vom Kreuz!
Jesus kannte aber auch die andere Möglichkeit: Die Menschen durch seine Macht an sich zu ziehen. Lukas erzählt von den Versuchungen Jesu: In der Wüste widersteht er der Verlockung, seine Kräfte auszunützen, um die Menschen auf billige Weise zu faszinieren (Lk 4,1-12); und auch am Kreuz hält er den Spott der Menschen aus: „Nun soll er sich selbst helfen, wenn er der erwählte Messias Gottes ist“ (Lk 23,35). Jesus will nicht, dass die Menschen an seine Wunder glauben, sondern an seine Botschaft. Deshalb gebietet er den Jüngern immer wieder, den Menschen nicht zu sagen, wer er wirklich ist, solange sie seine Taten nicht auf dem Hintergrund des Kreuzes und der Auferstehung richtig sehen können.
„der nehme täglich sein Kreuz auf sich...“
Jesus hat den Menschen nicht einfach alles Leid abgenommen; vielmehr wandelt er das Leid, den Tod, in neues Leben. Nachfolge Jesu heißt daher: Nicht den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, sondern den Weg in die Tiefe anzutreten. Nicht der Maßstab „Was denken die Leute von mir?“ führt zu Christus, sondern ein Leben, das die eigenen Schwachheiten und auch jene der anderen ernst nimmt als einen Teil des Lebens. „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ (Lk 9,23) Jesus nimmt den Menschen ihre eigenen Kreuze nicht ab, aber er trägt sein Kreuz mit ihnen und lässt keinen allein, weder im Leid, noch im Tod.
Der Weg der Ohnmacht führt zum Reich Gottes
Jesus ist in seinem Weg der Ohnmacht sehr konsequent: Keiner seiner ersten Nachfolger, der Jünger, stammt aus der Führungsschicht. Sie sind aus dem einfachen Volk genommen, Menschen mit Grenzen und Schwächen – ihnen vertraut er seinen Weg an. Von der Nachfolge Jesu ist daher auch niemand ausgeschlossen, denn er verlangt keine besondere Vorleistung, weder der Geburt, der Herkunft, des Standes, noch einer besonderen religiösen Einstellung. Was er will, das kann letztlich ein jeder und eine jede tun: Das eigene Leben anzunehmen, nach einem Fall wieder neu anzufangen, das eigene Kreuz zu tragen. Reich Gottes gibt es nicht ohne den Geschmack der Ohnmächtigkeit, ohne ein Bekenntnis zu den Armen, den Leidenden.
Für wen halte ich Jesus? Das entscheidet sich in meinem Tun
Die Nachfolge Jesu ist kein bequemer Weg, von dem Jesus alle Steine weggeräumt hat, aber es ist ein Weg, der einem jeden Menschen zu jeder Zeit offensteht. Und es ist kein Weg, der an den ersten Platz führt, sondern sich mit dem letzten Platz solidarisiert.
Für wen halte ich selbst diesen Jesus? Wer ist er für mich? Das ist letztlich die zentrale Frage für mich als Christ: Da ist es nicht mehr wichtig, was andere von ihm denken; auch nicht, was die Jünger gesagt haben – sondern was ich von ihm in meinem Leben entdecke. Die Botschaft Jesu will vor allem gelebt werden.
Norbert Riebartsch (2004)
Hans Hütter (1998)