Lesung aus dem Buch Jesaja.
Der Herr sagte zu mir: Du bist mein Knecht, Israel,
an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will.
Jetzt aber hat der HERR gesprochen,
der mich schon im Mutterleib
zu seinem Knecht geformt hat,
damit ich Jakob zu ihm heimführe
und Israel bei ihm versammelt werde.
So wurde ich in den Augen des HERRN geehrt
und mein Gott war meine Stärke.
Und er sagte:
Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist,
nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten
und die Verschonten Israels heimzuführen.
Ich mache dich zum Licht der Nationen;
damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.
Es sind Worte aus einem "Ebed-Jahwe-Lied" (das Lied vom Knecht Gottes), das im Buch Deuterojesajas (Kap. 40 bis 55) überliefert wird. Es ist die Zeit des babylonischen Exils. Für die Menschen eine furchtbare Katastrophe. Der Tempel in Jerusalem ist verwüstet, und sie selbst weinen an den "Flüssen Babels", wie es im Psalm heißt.
Im Lied wird ein breiter Horizont abgesteckt. Der Knecht Gottes soll das Volk Israel nicht nur zurückbringen und einen neuen Anfang machen - er soll zum Licht der Völker werden, damit Jahwes Heil die ganze Welt umspannt.
Die Menschen, die in der Verbannung zuerst an sich denken und von ihrer alten Heimat träumen, die von der Geschichte Gerechtigkeit erwarten und nicht länger Wunden lecken wollen, hören in diesem Lied, dass der Knecht Gottes sich nicht von ihnen vereinnahmen lassen kann. Es ist ein feiner Unterton - in Babel - zu hören: Jahwes Volk teilt das Licht mit den Völkern.
Es gibt Ausleger, die meinen, dass in den Liedern vom Knecht Gottes das Volk Israel selbst "Knecht Gottes" ist. Die Lieder vom Knecht Gottes enthalten so große Verheißungen, dass sie aber schon im Neuen Testament und im Urchristentum auf Jesus bezogen wurden. Alte gottesdienstliche Texte preisen Gott "durch deinen Knecht Jesus".
Als erste Lesung dieses Sonntags wird das sog. Zweite Lied vom Gottesknecht aus dem Jesajabuch vorgetragen. Der Text läßt sich schwer einordnen. Er folgt ziemlich unvermittelt auf den vorausgehenden Teil und steht in einem Zusammenhang mit Jes 42,1-9, dem Ersten Lied vom Gottesknecht.
Das Lied spricht in der Ich-Form von der Berufung eines Propheten, sodaß man zuerst einmal meinen könnte, Buchautor und Prophet seien identisch. In Vers 3 aber wird der Prophet mit "Israel" angeredet. Dies läßt die Annahme zu, daß das Volk Israel die Rolle des Propheten und Gottesknechtes wahrzunehmen habe. Andererseits könnte die Anrede "Israel" aber auch eine Titulierung des Propheten sein. Jahweh, der ihn als Knecht in Dienst nimmt, nennte ihn nach diesem Verständnis "Gottesstreiter" oder "Gotteskämpfer" (vgl. Gen 32,29).
Wer mit dem Gottesknecht letztendlich gemeint ist, läßt sich nicht eindeutig klären.
Die Bezeichnung "Knecht" muß nicht im Sinne von Sklave oder niederer Diener verstanden werden. Sie wurde auch für hohe Staatsämter, die in Abhängigkeit vom König ausgeübt wurden, verwendet und könnte auch mit "Minister" oder "Berater" übersetzt werden.
Inhaltlich geht es um die Erwählung und Einsetzung des Gottesknechtes in sein Amt. Die Formulierung in Vers 3 ruft Psalm 2,7-9 und die Inthronisierungszeremonie des Königs in Jerusalem in Erinnerung. Der Prophet nimmt die ihm zugemessene Würde selbstbewußt an (Vers 5a).
Die Aufgabe des Gottesknechtes wird in drei Kreisen beschrieben:
- Der Gottesknecht wird eingesetzt, damit Jahweh an ihm seine Größe und Herrlichkeit offenbaren kann (Vers 3).
- Der Gottesknecht soll die Verherrlichung Gottes herbeiführen, indem er das Volk, das im Exil verstreut unter anderen Völkern lebt, heim nach Jerusalem führen wird. Diese unter den herrschenden Verhältnissen menschlich gesehen unmögliche Aufgabe übernimmt der Prophet in Vertrauen auf Gott.
- Schließlich wird der Auftrag des Gottesknechtes noch ausgeweitet: Er soll Licht werden für die Völker und das Heil Gottes bis zu den Enden der Erde sichtbar machen. Seine Sendung überschreitet die engen nationalen Grenzen und gilt für die ganze Menschheit. Spätere Texte (Lk 2,32: "ein Licht zur Erleuchtung der Heiden" und Mt 28,19: Die Aussendung der Jünger durch den Auferstandenen) werden auf diese Sendung des Gottesknechtes Bezug nehmen.
Manfred Wussow (2005)
Hans Hütter (1999)