Hohe Töne
Was für hohe Töne! Gleich dreifach! Ich bin überrascht, auch ein wenig überfahren und hilflos. Erst ist davon die Rede, heilig zu sein, dann, Gottes Tempel zu sein, schließlich, vollkommen zu sein - wie auch euer himmlischer Vater. Maß genommen wird an - ihm. Nur an ihm. Mir wird dabei ganz schummrig. Ich bin doch nur ein kleiner Mensch!
Aber: Halt! Hat Gott mit kleinen Menschen nicht immer schon eine große Geschichte gehabt?
Große Geschichten mit kleinen Menschen
Fangen wir mit der ersten Lesung an. Das Buch Levitikus führt uns zum Volk Gottes. Es ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt Papier. Erst machen sie sich vollmundig und großspurig auf den Weg in das gelobte Land, dann entpuppen sie sich, als es durch die Wüste geht, als zweifelnd, nörgelnd und enttäuscht. Man spürt selbst den alten Texten die Aggressivität ab. Auch die Aggressivität Gottes. Er hält die Menschen kaum noch aus. Nur: er ist heilig. Dabei ist "heilig" nur ein anderes Wort für groß, erhaben, über den Dingen stehend. Gottes Größe ist seine Liebe und Treue. Darum geht er mit den Menschen mit. Darum bleibt er bei den Menschen. Darum lässt er sich von den Menschen nicht klein kriegen.
Die Konsequenz daraus: Wir sollen es ihm gleich tun. Das Beispiel, das genannt wird, hat es in sich: Wir sollen allem Hass abschwören. Wie er! Das macht uns heilig. Auf einmal bekommt das Wort "heilig" einen besonderen Glanz. "Heilig" macht uns menschlich. "Heilig" hebt uns aus den Niederungen heraus. "Heilig" lässt uns Gott schauen. "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr". Eine große Geschichte mit kleinen Menschen, die immer irgendwo eine Rechnung aufhaben!
Wohnung des Geistes Gottes
Dann die zweite Lesung. Wir treffen auf den Apostel Paulus. Lange danach. Das Christentum schickt sich an, Weltreligion zu werden. Der kleinen, lebendigen, aber auch zerstrittenen Gemeinde in Korinth schreibt Paulus ins Stammbuch, sie sei doch Tempel des Heiligen Geistes. "Wisst ihr nicht, dass der Geist Gottes in euch wohnt?" Das ist keine rhetorische Frage. Wer so fragt, ahnt, dass viele andere Geister hier hausen - nur nicht der Geist Gottes. Menschen wollen groß "raus" kommen, sich einen Namen machen, andere hinter sich scharen. Streitbar und provokativ nennt Paulus die Tendenzen und Versuchungen beim Namen. Ihm geht es darum, dass wir Christen unseren Namen von Christus tragen, zu ihm gehören, an seinem Weg teilhaben. Das war in Korinth längst nicht ausgemacht. Hier schlug einer dem anderen seine Weisheit um die Ohren, hier setzen sich die Menschen - in einer Gemeinde! – von einander ab, hier zählte nur, was jemand war.
Zu Christus gehören, bedeutet aber, sich seinem Wort anzuvertrauen, Schwache - auch Schwache im Glauben - anzunehmen, von den hohen Rössern herabzusteigen. Da leuchtet wieder das alte Wort: "Du sollst deinen Nächsten lieben wir dich selbst. Ich bin der Herr". Eine große Geschichte mit kleinen Menschen, die sich so klug vorkommen.
Schließlich hören wir das Evangelium. Jesus holt uns bei unseren Lebenserfahrungen ab. " Ihr habt gehört..." Tatsächlich. Was haben wir nicht alles gehört, was nicht alles gelernt, was nicht alles verbogen. Vieles ist uns zu Lebensweisheiten geronnen. Auch "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Wenn nur die Mittel verhältnismäßig sind - denken wir. Gelegentlich müssen wir uns wehren, uns auch wehren dürfen. Wir unterscheiden zwischen Freunden und Feinden. Wir wägen Worte und Strategien ab. Wir verfolgen Interessen. Dazwischen schaffen wir Grauzonen. Als ausgemacht gilt, dass wir mit Naivität nicht weiter kommen, mit frommer Naivität schon gar nicht.
Mutig der Gewalt entgegentreten
Doch: Ist Jesus naiv? Sind wir naiv, wenn wir - wie er - der Gewalt zuvorkommen, ihr die Spitze abbrechen, ihr den Teufelskreislauf nehmen? Im Evangelium wird aktiv formuliert, was wir machen können - nicht ergeben, passiv, abwartend: Wir können mutig aus der Gewalt aussteigen - und ihr souverän entgegentreten. Mit einem offenen Gesicht, mit einem offenen Mantel, mit einem gemeinsamen Stück Weg. Auf diese Weise glänzt das Evangelium, es glänzt weltfremd - und weltüberlegen. Sonst bliebe alles beim Alten. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie du mir, so ich dir. Auf subtile Weise ist Gewalt allgegenwärtig. Viele Menschen leider darunter - und können doch nicht aussteigen. "Ihr habt gehört" … Habe ich wirklich zugehört? Alles gehört?
"Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte."
Eine große Geschichte mit kleinen Menschen, die sich alle nach der Sonne sehnen.
Vollkommenheit
Wir werden heute mit zwei Lesungen und dem Evangelium reich beschenkt. Zugegeben: Die Überraschung ist schon sehr groß. Uns wird nicht nur etwas zugemutet - es wird uns großes zugetraut!
Auf behutsame Weise führen uns die Geschichten, Bilder und Zumutungen dieses Gottesdienstens in ein "gelobtes Land" und in einen "Tempel". Sie führen uns - zu uns. Hilflose Reaktionen und ängstliche Bedenken werden sich auch immer wieder neu einstellen.
Im landläufigen Sinn ist "heilig" etwas Elitäres - und passt dann gut zur Ehre der Altäre - nur nicht für uns. Aber das Wort "heilig" hat den Klang des geöffneten Himmels. "Heilig" ist ein Geschenk für Menschen, die sich nicht mit sich zufrieden geben, die sich auch nicht hinter dem angeblich Normalen verstecken, die sich in Teufelskreisläufen nicht gefangen nehmen lassen - "heilig" ist ein Geschenk für Menschen, die Maß nehmen an der Barmherzigkeit und Liebe Gottes. Er ist der Herr. Das zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben.
Heilig
"Ich bin der Herr". In diesem Satz liegt die ungeheure Befreiung. Die Befreiung von selbst gemachten Zwängen, von aufgeschaukelten Ressentiments, von sakrosankt erklärten Abwehrmechanismen. Jesus hat dafür sein Gesicht hingehalten, Jesus hat den Mantel geteilt, Jesus hat sich mit auf den Weg gemacht. Im Hebräerbrief wird er der Anführer in das Leben genannt.
Kein Zweifel: Gott verbindet sich mit kleinen Menschen in einer großen Geschichte! Nachdem wir oft so klein von uns denken - oder denken lassen, tut sich uns eine neue Welt auf. Von hohen und schönen Tönen werden wir begleitet: Heilig, Tempel des Heiligen Geistes, vollkommen - wie der Vater im Himmel.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
stärke und bewahre
unsere Herzen und Sinnen
in Christus Jesus,
unserem Herrn.