Wir wissen, dass wir nicht viel wissen
Mit großer Faszination sehe ich Zauberkünstlern zu. Mich beeindruckt jedes Mal, wie es ihnen gelingt, meine Aufmerksamkeit so abzulenken, dass ihre heimliche Manipulation nicht wahrnehme. Ihnen zuzuschauen ist für mich eine heilsame Übung, die mir bewusst macht, wie wenig ich wirklich wahrnehme, obwohl ich aufmerksam hinsehe.
Mit großem Interesse verfolge ich Berichte zu naturwissenschaftlichen Themen, die Einblick geben in Forschungsergebnisse des jeweiligen Wissensgebietes und die gleichzeitig zeigen, wie wenig wir insgesamt wissen über die Welt, in der wir leben. Skeptisch stehe ich allen Berichtgen gegenüber, die ein Ergebnis präsentieren nach der Formel: "dieses oder jenes Phänomen ist nichts anderes als..."
Wenn ein Mensch, den ich gut zu kennen meine, etwas tut, was ich ihm an Positivem oder Negativem nicht zugetraut hätte, bin ich ganz von den Socken. Da wird mir bewusst, wie wenig ich in Menschen hineinschauen kann und wie wenig ich von ihm letztlich wirklich weiß.
Wer kennt Jesus?
Im Evangelium, das wir gehört haben, fragt Jesus seine Jünger, für wen die Leute ihn hielten. Als Antwort bieten sie ihm eine bunte Palette von Möglichkeiten, die alle ein wenig stimmen und doch auch wieder nicht stimmen. In ihren Augen ist er "nichts anderes als ein Johannes der Täufer", "nichts anderes als Elija", "nichts anderes als ein Prophet"; und solche hat es in Israel schon viele gegeben.
Als Jesus die Jünger fragt: "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?", bekommt er zur Antwort: "Du bist der Messias!". Diese Antwort wird in ihm und auch in manchem Jünger Freude und Staunen ausgelöst haben. Jesus will aber sicherstellen, dass sie mit diesem Wissen behutsam umgehen. Es ist unter Umständen lebensgefährlich.
Wer aber meint, nun sei das Geheimnis gelüftet und er wisse nun alles, muss bald erkennen, dass er noch immer nicht durchschaut hat, was dies wirklich bedeutet. Mit dem Hinweis, "der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden, er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen", können sie noch nichts anfangen. Petrus reagiert menschlich verständlich darauf und will ihn von diesem Weg abhalten. Jesus weist ihn aber als Versucher zurück. Was es mit seinem Messiassein auf sich hat, werden sie erst viel später und auch dann erst nach und nach begreifen. Zuvor wird dieser Petrus ihn noch verleugnen und behaupten: "Ich kenne diesen Menschen nicht".
Wie gut kennen wir Jesus?
Wir sind in der glücklichen Lage und kennen Jesus zurückblickend aus der Geschichte. Wir wissen, wie sein Tod und seine Auferstehung zu verstehen sind. Wir wissen, dass Gott ihn rehabilitiert hat und dass er nun zur Rechten Gottes sitzt, wie es unser Glaubensbekenntnis formuliert.
Wie viel wissen wir aber wirklich? Wie gut kennen wir Jesus? Wie gut kennen ihn Menschen, die die Bibel mehr oder weniger auswendig kennen, jedes Wort untersucht und hin und her gedreht haben? Theologen wissen mehr über Jesus, aber kennen sie ihn deshalb auch besser? Diakone, Priester und Bischöfe repräsentieren ihn in der Liturgie, aber sind sie deshalb mit ihm vertrauter? Und auch die, die sich ein Leben lang bemüht haben, mit ihm vertraut zu werden, wie gut kennen sie ihn und wie nahe sind sie ihm wirklich?
Der Weg der Nachfolge
Spätestens hier beginnt der Weg der Nachfolge. Wenn jemand in die Nachfolge Jesu tritt und konkret versucht zu leben, wie Jesus gelebt hat, wird er im Vergleich zum Nachdenken über Jesus andere, neue, tiefere Erfahrungen machen. Es ist ein Unterschied, ob ich einen todkranken Menschen auf seinem Weg begleite oder selbst in der Notaufnahme gelandet bin, an allen möglichen Maschinen hänge und voller Ungewissheit auf das Untersuchungsergebnis warte. Wenn ich versuche, religiöse Zusammenhänge anderen Menschen verständlich zu machen, geht mir selbst oft erst im Ringen um Worte der entscheidende Knopf auf.
Was Christsein bedeutet, erfahre ich erst, wenn ich selbst in die Fußstapfen Jesu trete und mein Leben in der ganzen Bandbreite, mit all seinen Möglichkeiten, Höhen, Tiefen, Abgründen und Unbegreiflichkeiten annehme. Das Kreuz, das wir auf uns nehmen sollen, ist unser eigenes Leben.
Was könnte mit der Möglichkeit des Verlierens gemeint sein, das uns droht, wenn wir unser Leben retten wollen? Ich sehe darin die Versuchung eines jeden Menschen, etwas anderes sein zu wollen, als wir in unserer Personmitte eigentlich sind. Wir legen uns Rollen zurecht, die wir spielen, um etwas zu gelten, jemand zu sein. Wir pflegen unser Image und legen einander nahe, was sie von uns denken und halten sollen. Je weiter sich diese Rolle von dem entfernt, was wir im Innersten sind, desto mehr verlieren wir uns.
Nachfolge: Ein Weg der Selbsterkenntnis
Einen anderen Menschen gut zu kennen, ist nicht einfach. Oft meinen wir, jemand zu durchschauen. Aber was wissen wir wirklich von einander? Sich selbst zu kennen, zu erkennen, ist ebenso schwierig. Uns selbst besser kennen und verstehen zu lernen, ist eine lebenslange Aufgabe. Dabei wird hin und wieder unser Selbstbild durchkreuzt und wir werden durch unsere eigene Lebenserfahrung eines Besseren belehrt.
Ich fürchte, das hat nun sehr düster und pessimistisch geklungen, sollte es aber nicht. Jesus stellt uns in Aussicht: Wer diesen Weg geht, wird das Leben gewinnen. Auch sein Weg endete nicht am Kreuz. "Nach drei Tagen werde er auferstehen" ist der Zielpunkt seines Lebensweges. Die Jünger können damit noch nichts anfangen, weil sie es noch nicht verstehen.
Das Wort Jesu vom Kreuz ist eine Ermutigung. Jene, die ihr Leben als Kreuzeslast spüren, sollen wissen, dass dies nicht das Ende ist. Und jene, die hoffen, dem Kreuz entgehen zu können, sollen wissen, dass ihr Leben mehr für sie bereit hält, als sie zu diesem Zeitpunkt ahnen können. Jesus selbst ist diesen Weg vorausgegangen, um uns zu zeigen, wo er wirklich endet.
Josef Kampleitner (2000)