Brotvermehrung - Anlass zu Verwunderung?
Die wunderbare Speisung der fünftausend Männer, dazu noch eine sicherlich nicht unbeträchtliche Anzahl von Frauen und Kindern, mag in so manchem die Frage auftauchen lassen, warum dasselbe nicht auch hier und heute geschehen kann? Wundern wir uns vielleicht über das Wunder? Anlässe dazu gäbe es ja mehr als genug. Denken wir nur an die Millionen von Menschen, denen es an Nahrung und Kleidung fehlt, an die Vielen, die tagtäglich hungern, ja verhungern, verdursten. Denken wir an die Kinder, die kaum Chancen zum Überleben haben, Nationale und internationale Hilfsorganisationen werden trotz aller Bemühungen der Lage nicht Herr. Die Welt muss mit dem Hunger und sonstiger Unterversorgung leben. Ja selbst in unseren Wohlstandsländern, in denen ein Überangebot an Nahrungsmitteln besteht, gibt es gar nicht so wenige, die unter der Armutsgrenze leben, denen eine mühelose Brotvermehrung sehr zustatten käme. - Aber das Wunder der Brotvermehrung bleibt heute aus! Warum, so könnte man sich verwundert fragen, wird denn Brot nicht auch heute in so überfließendem Maße vermehrt, dass niemand mehr zu hungern braucht und dass am Ende noch zwölf Körbe übrig bleiben?
Das Wunder und seine Deutung
Die Wundererzählungen in der Hl. Schrift haben immer einen über das Vordergründige und Augenfällige hinausgehenden tieferen Hintergrund, der erst erschlossen werden muss. Die Menschen von damals, die Jesus gefolgt waren, bekamen fürs erste einmal genügend zu essen, sie erhielten ausreichend Lebensmittel und waren insofern zufrieden. Hatten sie und alle anderen, die Jesus begegnet sind, auch ausreichend Mittel zum ganzen Leben? Mittel zum Leben in Sicherheit, Geborgenheit, Gesundheit? Das Evangelium berichtet ausdrücklich, dass Jesus mit denen, die ihm gefolgt waren, Mitleid hatte und dass er die Kranken heilte. Es ging also nicht nur um die, sagen wir, Erstversorgung mit Grundnahrungsmitteln, sondern es ging und geht um den ganzen Menschen, um Mittel für das Leben seiner Seele, um die umfassende Bekehrung, die Hinwendung zu Gott. Vielleicht haben einige das begriffen, dass die Speisung mit Brot auch eine Wandlung bewirken soll, dass ihnen Mittel zu einem Leben mit Gott angeboten werden.
"Gebt ihr ihnen zu essen"
Mit dieser von Jesus an seine Jünger gerichteten Aufforderung ist nicht nur die notwendige Hilfeleistung bei der Verteilung von Brot und Fischen gemeint, sondern ganz offensichtlich mehr: Die von Jesus in seine Nachfolge Gerufenen sollen sich nicht bloß als Bedienstete bei der Gratisverteilung von Lebensmitteln betrachten, sondern sie werden zu einem umfassenderen Dienst am Leben der Menschen gerufen. Es gibt viele Hungernde, Dürstende, Vereinsamte, Ausgestoßene, Ausgeschlossene, denen es vielleicht gar nicht an Lebensmitteln im üblichen Sinn gebricht, die aber doch mit sich und ihrer Umgebung nicht zurecht kommen, die im Haus ihrer Seele Fremdlinge geblieben sind und sich nach Beheimatung sehnen, die aber die Mittel zum wirklichen Leben nicht gefunden haben. Das sind Menschen, die das Mitleid Jesu wecken, wie es im heutigen Evangelium heißt.
Nahrungsmittel und Mittel zum Leben
Die in den Dienst der Brotverteilung Gestellten können nicht nur Nahrungsmittel verteilen, sondern, was nicht minder bedeutsam ist, auch Mittel zum Leben reichen, indem sie ihren Meister nachzuahmen versuchen, der fremde Not sofort gesehen hat. Der nicht achtlos vorüberging, wenn da ein Mensch verletzt, verwundet oder sonstwie krank war. Jesus hat Kranke geheilt, indem er in der Menschenseele Verschüttetes zum Leben brachte, Verdorrtes erblühen ließ, innere Krümmungen und Verbogenheiten wieder gerade gerichtet hat, wie dies schon der Prophet Jesaja in der Vision vom Gottesknecht angedeutet (Jes, 40, 3-5) und Johannes der Täufer wieder verkündet hat (Jo 3, 4-6).
Zu diesem Dienst am Leben sind wir alle gerufen, die wir durch Taufe und Firmung Christus gleichförmig geworden sind.
Das übrig gebliebene Brot
Die Menschen wurden satt, und es blieben sogar noch zwölf Körbe mit den übrig gelassenen Brotstücken zurück. Die Menschen hatten also am Ende mehr als am Anfang. Hier begegnen wir einmal mehr der Weise, wie Gott an und mit den Menschen umgeht: Wer sich wie Jesus, im Dienst verausgabt, der wird am Ende nicht nur nicht leer dastehen, sondern er wird noch mehr in Händen haben, als er vorher hatte. "Gebt ihr ihnen zu essen", das gilt nicht nur für die täglich benötigten Nahrungsmittelmittel, sondern das gilt gleichermaßen, ja sogar noch mehr für die Mittel zu einem Leben, das im Einklang mit Gott steht. Glückliches Leben, Leben in der Fülle bedeutet ja im Grunde nichts anderes, als die Saiten der eigenen Seele so ein- und abzustimmen, dass der Mensch die von Gott für ihn erdachte Melodie spielen kann. Diese Harmonie ist ja die tiefste Sehnsucht auf dem Grund einer menschlichen Seele.
Wer im Dienst des Lebens für andere steht, der erleidet keinen Verlust, er nimmt nicht ab, sondern steht am Ende noch als Bereicherter, Beschenkter da.