Unerwartete Begegnung
Wer kennt das nicht: Man fühlt sich allein in einem Raum und plötzlich ist jemand da, mit dem oder mit der man nicht gerechnet hat? "Hast du mich jetzt erschreckt!" heißt es dann und man ist erleichtert, wenn der oder die Unerwartete eine vertraute Person ist. Der Schrecken muss wohl umso größer sein, wenn diese Person fremd ist oder man sich nicht vorstellen kann, wie sie hereingekommen ist.
So muss es wohl auch den Jüngern ergangen sein, als da plötzlich Jesus in ihrer Mitte war, obwohl sie sich aus Furcht vor Verfolgung eingeschlossen hatten. Erst recht konnte niemand damit rechnen, dass Jesus da war, nachdem ihnen all die Ereignisse um seinen Tod noch in den Knochen steckten.
Und es ist durchaus verständlich, dass einer, der das nicht miterlebt hat, alles nicht glauben kann. Da muss man gar kein großer Skeptiker sein, zu dem der Apostel Thomas gerne hochstilisiert wird.
Jesus war es aber offensichtlich ein Anliegen, dass alle auf dem gleichen Wissens- und Überzeugungsstand waren. Einerseits waren die Jünger ja seine Freunde, andererseits hatte er ein Anliegen, für das er alle brauchte und ins Boot holen wollte. Für ihn begann eine neue Ära, von der die Jünger noch nichts ahnten. Jesus will, dass seine Sache weitergeht. Für ihn ist seine Mission noch nicht zu Ende.
Die Sendung Jesu
Um dies zu verstehen, müssen wir zurück an den Anfang: Bei seiner Taufe im Jordan kam der Geist Gottes auf Jesus herab. Dieser ist von nun an die treibende Kraft, die ihn erfüllt. Der Geist führt ihn zunächst in die Wüste. Nach der Gefangennahme des Täufers treibt der Geist Jesus öffentlich aufzutreten und den Anbruch des Reiches Gottes als Evangelium zu verkünden, während die anderen Johannes-Jünger sich zurückzogen. Der Geist Gottes begleitet Jesus auf dem ganzen Weg bis zum von den Jüngern unerwarteten Ende in Jerusalem. Die Evangelisten Matthäus und Lukas wissen sogar zu berichten, dass bereits die Zeugung und die Geburt Jesu vom Heiligen Geist bewirkt waren.
Das Werk des Heiligen Geistes ist nicht mit dem Tod Jesu und auch nicht mit seiner Auferstehung zu Ende. Die Auferstehung Jesu ist mehr als ein Happy End einer dramatischen Geschichte. Auferstehung, Himmelfahrt und Pfingsten müssen zusammen gesehen werden, um sie verstehen zu können.
Jesus tritt in die Mitte seiner noch verstörten Jünger und übergibt ihnen sein Werk mit den Worten: "Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch;" und: "Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert." Das große Werk der Versöhnung der Menschheit mit dem Vater, das Jesus begonnen hat, geht weiter in der Verantwortung der Jünger.
Unsere Mission der Barmherzigkeit
Das "Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch", gilt auch uns, den Nachfolgern der Jünger Jesu. Den Auftrag "Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert", nur als Vollmacht der Sündenvergebung zu betrachten und den Papst und die Bischöfe dafür zuständig zu erklären, ist eine Engführung in der Auslegung dieses Sendungsauftrages Jesu.
Papst Johannes Paul II. hat den Weißen Sonntag zum Sonntag der Barmherzigkeit erklärt und damit das Thema Barmherzigkeit stärker in die Mitte der Theologie und der Pastoral gerückt. Das Jahr der Barmherzigkeit, das Papst Franziskus ausgerufen hat, ist zwar zu Ende, bleibt aber Programm für die ganze Kirche.
Dabei geht es meines Erachtens nicht nur um die Frage, wie finde ich einen barmherzigen Gott angesichts meines persönlichen Versagens und wie kann das Sakrament der Versöhnung neu belebt werden. Vielmehr sollte unser ganzes Leben von Barmherzigkeit geprägt und getragen werden. Das gilt im Umgang mit den Menschen, die an uns schuldig geworden sind, dies gilt aber auch für den Umgang mit Menschen, die in unserem unbarmherzigen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zu Verlierern geworden sind. Dies betrifft die Schwächeren in unserer eigenen Gesellschaft. Dies betrifft aber auch all jene, die von den selbsternannten Herrschern aus ihren Heimatländern vertrieben worden sind. Nicht zuletzt ist unser ganzes Weltwirtschaftssystem davon betroffen, das einzelne sehr reich macht und viele arm bleiben lässt.
Die Jünger hatten sich zunächst "aus Furcht vor den Juden" eingeschlossen. Wir neigen aus diversen anderen Gründen dazu, uns abzukapseln und auf unser eigenes Wohl – leiblich wie seelisch – zu schauen. Jesus tritt auch an uns heran und fordert uns auf, sein Werk der Barmherzigkeit Gottes in die ganze Welt hineinzutragen.